Von was wurden die Deutschen am 8. Mai 1945
befreit? Diese Frage stellte der renommierte ostdeutsche marxistische
Historiker Kurt Pätzold am 7. Mai 2015, dem Vorabend des 70. Jahrestages
des Tages der Befreiung, in Berlin. Seine Antwort: „Sie wurden befreit von der weiteren Teilnahme an einem Verbrechen.“
Den Deutschen seien im Mai 1945 die Waffen aus der Hand geschlagen
worden, mit denen sie Europa wie nie zuvor zugerichtet hatten. Sie seien
aus ihrer bis dahin „schlechtesten Rolle in der Geschichte“ befreit worden, freigesetzt für eine neue, noch offene. „Darüber muss man reden, wenn über den Tag der Befreiung gesprochen wird“, sagte der Historiker in der Berliner „Ladengalerie“ der Tageszeitung junge Welt im Gespräch mit Chefredakteur Arnold Schölzel. Anlass war das neueste Buch von Kurt Pätzold, der kürzlich 85 Jahre wurde: „Kein Platz an der Sonne: Hundert Jahre danach und wenig gelernt“ (Verlag Am Park).
Obwohl der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 in seiner Rede zum 8. Mai
als erster bundesdeutscher Politiker vom „Tag der Befreiung“ sprach, sei
dieser Begriff heute beispielsweise nur in einem Schulbuch der
Bundesrepublik zu finden, berichtete Pätzold. Er machte auch darauf
aufmerksam, dass hierzulande in der gegenwärtigen Debatte um das
Ereignis und seine Vorgeschichte die entscheidende Frage nicht gestellt
werde: Die Rolle des deutschen Imperialismus in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts. „Der 2. Weltkrieg war die Fortsetzung des 1. Weltkrieges. Das eine hängt mit dem anderen zusammen.“ Die Behauptung von Historikern wie Heinrich August Winkler, dem Festredner im Bundestag zum 8. Mai 2015, dass Hitler ein „Sonderfall“ der deutschen Geschichte sei, bezeichnete Pätzold als „Ausflucht“. „Das Deutsche Reich wollte schon 1914 nicht nur Großmacht, sondern Weltmacht sein und nahm 1939 den zweiten Anlauf dazu.“
Das gehöre zu einer ernsthaften historischen Analyse, sagte der
ostdeutsche Historiker zu den Kontinuitäten der deutschen Geschichte,
ohne die es den 8. Mai 1945 nicht gegeben hätte.
Der Begriff der „Befreiung“ werde oft mit dem Argument attackiert, was den mit den Gefangenen, den vergewaltigten Frauen und den Vertriebenen sei, von was diese befreit worden seien. Auf diese Weise werde die individuelle Erfahrung der Einzelnen dem geschichtlichen Ereignis und seinen Zusammenhängen entgegengestellt, sagte Pätzold dazu. Doch die massenhaften individuellen Erfahrungen seien nie deckungsgleich mit der geschichtlichen Einordnung von Ereignissen. Dahinter stecke aber Absicht, wenn Einzelschicksale den grundlegenden geschichtlichen Tatsachen entgegengesetzt werden. Übrig bleibe so, dass nur die Opfer des Faschismus befreit worden seien und alle Übrigen, zumindest in Ostdeutschland und Osteuropa, nur der Weg von der faschistischen in die kommunistische Diktatur geblieben sei. Das sei die Grundlage für die Rede von der halben Befreiung 1945 und der „tatsächlichen Befreiung“ erst 1990.
So komme es auch dazu, dass Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier zwar in Wolgograd die sowjetischen Soldaten ehrte, die aber vermeintlich für eine schlechte Sache gestorben seien. Dazu gehöre, dass Bundespräsident Joachim Gauck im Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 2. Mai 2015 von der „ambivalenten Erinnerung an die Sowjetarmee“ sprach: „Die Soldaten der Diktatur waren bis 1945 Befreier, so wie sie nach 1945 Garanten der Diktatur waren. Wir können und müssen Letzteres höchst kritisch betrachten, zugleich aber für die Rolle dieser Soldaten bei der Befreiung genau so deutlich Respekt, ja Dank bezeugen.“ Das sei noch die geschickte Variante „auf leisen Sohlen“ der Geschichtsverdrehung. Pätzold verwies auf Beispiele für diese Sicht auch unter Linken, die meinen, dass wir heute in der besten aller denkbaren Gesellschaftsordnungen leben, und wer das in Frage stelle, nur die Wahl zwischen Kommunismus und Faschismus habe. „Sie werden dressiert zu Reparaturschlossern der kapitalistischen Gesellschaft. Das dürfen sie sein, aber bitte nicht an den Grundfesten rütteln.“ Pätzolds Antwort darauf: „Wenn der Gedanke an eine andere Gesellschaft aufrechterhalten werden soll, muss die Geschichte von der Nichtbefreiung der Ostdeutschen vom Tisch!“ Er sehe die Geschichte des 20. Jahrhunderts als die eines gescheiterten Versuches, aus der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Logik auszubrechen. „Daran waren Millionen beteiligt.“ Es dürfe nicht gelingen, das vergessen zu machen.
Doch gegenwärtig ist eher zu beobachten, dass sich das fortsetzt, was junge Welt-Chefredakteur Arnold Schölzel als „tiefe Spaltung im Alltagsbewusstsein“ hierzulande bezeichnete. Das sei auch eine Folge der Tatsache, dass es im Mai 1945 zur Befreiung von außen und nicht zu einer Selbstbefreiung vom Faschismus von innen kam. Im Laufe des Abends sprach der Historiker Pätzold auch über die Frage: „Was ist da am 8. Mai 1945 zu Ende gegangen?“ Vor allem im Westen werde dabei von „Hitlers Krieg“, „Hitlerdeutschland“ oder leicht verschämt von der „NS-Diktatur“ gesprochen. „Besonders schön“ sei die Antwort des Nachrichtenmagazins Der Spiegel in der Ausgabe vom 25. April 2015: „Das Reich des Bösen“. „Jede gesellschaftswissenschaftliche Kennzeichnung von Staat und Gesellschaft wird vermieden“, stellte der Historiker mit Blick auf die öffentliche Debatte und Darstellung zum Thema klar. Korrekt wäre es, von der „bürgerlichen Gesellschaft faschistischer Ausprägung“ zu sprechen, die am 8. Mai 1945 ein Ende fand. Aber im Bezug auf den Faschismus werde auch jeder Hinweis auf die bürgerliche Gesellschaft vermieden. Das habe die Geschichtsschreibung in der Bundesrepublik seit ihrer Gründung und schon davor geprägt. „Tiefer reichende Erklärungen werden nicht geboten. Es werden Erscheinungen der Geschichte beschrieben, aber nicht in die Tiefe gegangen.“
Auf die Frage von Schölzel, warum das trotz der z.B. aus der DDR vorhandenen umfangreichen historischen Literatur zum Thema heute weiter so sei, ob das alles vergessen sei, sagte Pätzold, das habe grundlegend damit zu tun, dass keiner in Deutschland, Ost wie West, etwas mit dem Krieg und Faschismus zu tun gehabt haben wollte und wolle: „Keiner ist es gewesen.“ In Westdeutschland sei das auf die Rolle als "Betrogene und Opfer" reduziert worden. Dieses Selbstbild habe vor der Frage nach der eigenen Verantwortung für das Geschehene bewahrt. Pätzold äußerte Verständnis für das individuelle Schweigen über die eigene Rolle und stellte fest: „Das hat sich in verschiedener Weise erhalten.“ Die andere offizielle Haltung in der DDR – während Konrad Adenauer schon 1949 aufforderte, damit aufzuhören, von Verbrechern zu reden – sei auch durch den Zwang über die Dinge zu reden in Folge der Reparationen zustande gekommen. Die an die Macht gekommenen Antifaschisten in der sowjetischen Besatzungszone und später der DDR hätten mit einer „zweischneidigen Politik“ zum einen die Menschen gewinnen wollten und zum anderen für diese unangenehmen Wahrheiten aussprechen müssen: „Sie mussten den Menschen erklären, warum das geschieht.“ Das sei im Westen nicht der Fall gewesen.
Der Unterschied der Deutschen als Opfer zu den anderen sei aber, dass sie vorher „in der Masse Instrumente“ gewesen seien, „ob freiwillig oder aus Zwang“. „Sie waren mit daran beteiligt, dass es bis Mai 1945 gedauert hat.“ Was deutsche Zivilisten gegen Ende des Krieges erleben und auch erleiden mussten, in West wie Ost, sei Folge des „Wahnsinns des Verteidigens bis zur letzten Stunde, bis zum letzten Mann und zur letzten Patrone“ gewesen und gehe auf das Konto der faschistischen Wehrmacht und ihrer Führung. Die gegenwärtig weit verbreiteten Erzählungen von Einzelschicksalen führten in den meisten Fällen sofort zu den Folgen für die Deutschen nach 1945, zur Darstellung als Opfer. Doch das reiche nicht, um Geschichte einordnen und verstehen zu können, um sie zu begreifen, so der Historiker.
Kurt Pätzold: Kein Platz an der Sonne – Hundert Jahre danach und wenig gelernt
verlag am park, 2015
235 Seiten; brosch.
ISBN 978-3-945187-28-9
14,99 €
Fotos: verlag am park/F. Schumann |
Der Begriff der „Befreiung“ werde oft mit dem Argument attackiert, was den mit den Gefangenen, den vergewaltigten Frauen und den Vertriebenen sei, von was diese befreit worden seien. Auf diese Weise werde die individuelle Erfahrung der Einzelnen dem geschichtlichen Ereignis und seinen Zusammenhängen entgegengestellt, sagte Pätzold dazu. Doch die massenhaften individuellen Erfahrungen seien nie deckungsgleich mit der geschichtlichen Einordnung von Ereignissen. Dahinter stecke aber Absicht, wenn Einzelschicksale den grundlegenden geschichtlichen Tatsachen entgegengesetzt werden. Übrig bleibe so, dass nur die Opfer des Faschismus befreit worden seien und alle Übrigen, zumindest in Ostdeutschland und Osteuropa, nur der Weg von der faschistischen in die kommunistische Diktatur geblieben sei. Das sei die Grundlage für die Rede von der halben Befreiung 1945 und der „tatsächlichen Befreiung“ erst 1990.
Schweigen über die eigene Rolle
So komme es auch dazu, dass Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier zwar in Wolgograd die sowjetischen Soldaten ehrte, die aber vermeintlich für eine schlechte Sache gestorben seien. Dazu gehöre, dass Bundespräsident Joachim Gauck im Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 2. Mai 2015 von der „ambivalenten Erinnerung an die Sowjetarmee“ sprach: „Die Soldaten der Diktatur waren bis 1945 Befreier, so wie sie nach 1945 Garanten der Diktatur waren. Wir können und müssen Letzteres höchst kritisch betrachten, zugleich aber für die Rolle dieser Soldaten bei der Befreiung genau so deutlich Respekt, ja Dank bezeugen.“ Das sei noch die geschickte Variante „auf leisen Sohlen“ der Geschichtsverdrehung. Pätzold verwies auf Beispiele für diese Sicht auch unter Linken, die meinen, dass wir heute in der besten aller denkbaren Gesellschaftsordnungen leben, und wer das in Frage stelle, nur die Wahl zwischen Kommunismus und Faschismus habe. „Sie werden dressiert zu Reparaturschlossern der kapitalistischen Gesellschaft. Das dürfen sie sein, aber bitte nicht an den Grundfesten rütteln.“ Pätzolds Antwort darauf: „Wenn der Gedanke an eine andere Gesellschaft aufrechterhalten werden soll, muss die Geschichte von der Nichtbefreiung der Ostdeutschen vom Tisch!“ Er sehe die Geschichte des 20. Jahrhunderts als die eines gescheiterten Versuches, aus der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Logik auszubrechen. „Daran waren Millionen beteiligt.“ Es dürfe nicht gelingen, das vergessen zu machen.
Doch gegenwärtig ist eher zu beobachten, dass sich das fortsetzt, was junge Welt-Chefredakteur Arnold Schölzel als „tiefe Spaltung im Alltagsbewusstsein“ hierzulande bezeichnete. Das sei auch eine Folge der Tatsache, dass es im Mai 1945 zur Befreiung von außen und nicht zu einer Selbstbefreiung vom Faschismus von innen kam. Im Laufe des Abends sprach der Historiker Pätzold auch über die Frage: „Was ist da am 8. Mai 1945 zu Ende gegangen?“ Vor allem im Westen werde dabei von „Hitlers Krieg“, „Hitlerdeutschland“ oder leicht verschämt von der „NS-Diktatur“ gesprochen. „Besonders schön“ sei die Antwort des Nachrichtenmagazins Der Spiegel in der Ausgabe vom 25. April 2015: „Das Reich des Bösen“. „Jede gesellschaftswissenschaftliche Kennzeichnung von Staat und Gesellschaft wird vermieden“, stellte der Historiker mit Blick auf die öffentliche Debatte und Darstellung zum Thema klar. Korrekt wäre es, von der „bürgerlichen Gesellschaft faschistischer Ausprägung“ zu sprechen, die am 8. Mai 1945 ein Ende fand. Aber im Bezug auf den Faschismus werde auch jeder Hinweis auf die bürgerliche Gesellschaft vermieden. Das habe die Geschichtsschreibung in der Bundesrepublik seit ihrer Gründung und schon davor geprägt. „Tiefer reichende Erklärungen werden nicht geboten. Es werden Erscheinungen der Geschichte beschrieben, aber nicht in die Tiefe gegangen.“
Auf die Frage von Schölzel, warum das trotz der z.B. aus der DDR vorhandenen umfangreichen historischen Literatur zum Thema heute weiter so sei, ob das alles vergessen sei, sagte Pätzold, das habe grundlegend damit zu tun, dass keiner in Deutschland, Ost wie West, etwas mit dem Krieg und Faschismus zu tun gehabt haben wollte und wolle: „Keiner ist es gewesen.“ In Westdeutschland sei das auf die Rolle als "Betrogene und Opfer" reduziert worden. Dieses Selbstbild habe vor der Frage nach der eigenen Verantwortung für das Geschehene bewahrt. Pätzold äußerte Verständnis für das individuelle Schweigen über die eigene Rolle und stellte fest: „Das hat sich in verschiedener Weise erhalten.“ Die andere offizielle Haltung in der DDR – während Konrad Adenauer schon 1949 aufforderte, damit aufzuhören, von Verbrechern zu reden – sei auch durch den Zwang über die Dinge zu reden in Folge der Reparationen zustande gekommen. Die an die Macht gekommenen Antifaschisten in der sowjetischen Besatzungszone und später der DDR hätten mit einer „zweischneidigen Politik“ zum einen die Menschen gewinnen wollten und zum anderen für diese unangenehmen Wahrheiten aussprechen müssen: „Sie mussten den Menschen erklären, warum das geschieht.“ Das sei im Westen nicht der Fall gewesen.
Der Unterschied der Deutschen als Opfer zu den anderen sei aber, dass sie vorher „in der Masse Instrumente“ gewesen seien, „ob freiwillig oder aus Zwang“. „Sie waren mit daran beteiligt, dass es bis Mai 1945 gedauert hat.“ Was deutsche Zivilisten gegen Ende des Krieges erleben und auch erleiden mussten, in West wie Ost, sei Folge des „Wahnsinns des Verteidigens bis zur letzten Stunde, bis zum letzten Mann und zur letzten Patrone“ gewesen und gehe auf das Konto der faschistischen Wehrmacht und ihrer Führung. Die gegenwärtig weit verbreiteten Erzählungen von Einzelschicksalen führten in den meisten Fällen sofort zu den Folgen für die Deutschen nach 1945, zur Darstellung als Opfer. Doch das reiche nicht, um Geschichte einordnen und verstehen zu können, um sie zu begreifen, so der Historiker.
Kurt Pätzold: Kein Platz an der Sonne – Hundert Jahre danach und wenig gelernt
verlag am park, 2015
235 Seiten; brosch.
ISBN 978-3-945187-28-9
14,99 €
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