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Mit deutsch- und volkstümelndem sowie rechtsextremem und faschistischem Gedankengut habe ich nichts am Hut und nichts zu tun!

Montag, 30. September 2019

Serie DDR 1989/90: 30. September '89 in Prag – Vorspiel zum "Mauerfall"

Von Tilo Gräser

Am 30. September 1989 hat sich die Ohnmacht der damaligen DDR-Partei- und Staatsführung unter Erich Honecker auf eine dramatische und deutliche Weise gezeigt. Im Rückblick darauf erscheint der Weg zur Grenzöffnung am 9. November folgerichtig und unaufhaltsam. Die Ereignisse haben auch klar gemacht: Moskau hilft nicht mehr.
Der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher erklärte am 30. September 1989 gegen 19 Uhr auf dem Balkon der BRD-Botschaft in Prag mehreren tausend DDR-Bürgern, dass sie in die Bundesrepublik ausreisen dürfen. Mit laut den Augenzeugen unbeschreiblichem Jubel reagierten die Menschen darauf. Genau das hatten sie erreichen wollen, als sie im Frühjahr 1989 begannen, die Botschaften der BRD in Prag, Budapest, Warschau und selbst die ständige Vertretung der BRD in Ost-Berlin zu besetzen.

Der Tag vor 30 Jahren zeigte endgültig, dass die SED-Führung mit dem Generalsekretär Erich Honecker nur noch reagieren kann und das Heft des Handelns längst verloren hat. Inzwischen gibt es eine umfangreiche Literatur mit Aussagen von Zeitzeugen sowie mit Dokumenten zu den Ereignissen. Sie belegt, wie ohnmächtig und hilflos die DDR-Vertreter einschließlich des Ministeriums für Staatssicherheit reagierten. Ihnen liefen die eigenen Bürger weg, enttäuscht von der Unbeweglichkeit der politischen Führung und deren Unwillen zu Reformen.

„Landsleute“ angelockt


Zugleich wurden sie angelockt: Die BRD-Regierung weigerte sich bis zuletzt, die DDR-Staatsbürgerschaft anzuerkennen. Artikel 116 des Grundgesetzes machte alle DDR-Bürger zu Deutschen unter bundesdeutscher Hoheit. So wurde die Fluchtbewegung in diesem Maß möglich, auch wenn die Ursachen dafür DDR-gemacht waren. Bezeichnenderweise sprach Genscher die Botschaftsbesetzer aus der DDR mit „Liebe Landsleute“ an.

Zum anderen wurden in Ungarn, wahrscheinlich nicht anders in Polen und der ČSSR, DDR-Bürger auf verschiedene Weise eingeladen, die Botschaften und eingerichtete Aufnahmelager zur Flucht zu nutzen. So sprachen beispielsweise im Sommer 1989 in Budapest Mitarbeiter der „Malteser“ gezielt erkennbare DDR-Touristen an, die Chance zur Flucht zu nutzen. Die katholische Hilfsorganisation organisierte im Auftrag der ungarischen Regierung die Lager für DDR-Bürger. Nicht alle gingen damals darauf ein, wie der Autor damals erfuhr.

Nicht mehr die SED-Spitze entschied den Gang der Dinge, sondern andere. Dabei spielte eine wichtige Rolle, was eine kleine Episode aus dem September 1989 deutlich macht. Über die berichtete der ehemalige DDR-Staatsrechtler Ekkehard Lieberam Ende August dieses Jahres in der Tageszeitung „junge Welt“: „Noch vor der ‚Wende‘ gab es, um den 10. September 1989 herum, ein Angebot des Außenministeriums der Bundesrepublik an die Regierung der DDR, miteinander ‚über die Vereinigung‘ zu verhandeln.“ Die von Lieberam zitierte Begründung der Bonner Vertreter ist interessant: „Die Voraussetzungen der Zweistaatlichkeit, ‚Jalta und die Stärke der Sowjetunion‘, seien entfallen.“

Schwäche ausgenutzt


Zur selben Zeit, am 11. September 1989, öffnete das noch sozialistische Ungarn seine Grenze zu Österreich für Bürger aus dem „Bruderland“ DDR. Laut dem ehemaligen DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow bedankte sich Bonn bei Budapest mit rund drei Milliarden D-Mark Finanzhilfe. Die von Lieberam erwähnte Episode ist ein kleiner Beleg dafür, was führende Kreise des Westens dachten: Der Ostblock pfeift auf dem sprichwörtlichen letzten Loch.

Davon kündete bereits die Tatsache, dass im April 1989 US-CIA-General Vernon A. Walters als Botschafter der USA in Bonn akkreditiert wurde. Der hatte nach eigenen Worten die „Wiedervereinigung“ vorausgesehen. Die „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zitierte den reaktivierten CIA-Putsch-Veteran am 10. Januar 1989 mit dem Satz: „Eine meiner Hauptaufgaben ist es, die Letzte Ölung zu geben, kurz bevor der Patient stirbt.“ Der einstige US-Experte des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), Klaus Eichner, betonte, dass sich die "Ölung" durch Walters nicht auf die BRD bezog. Er schrieb dazu in der Zeitschrift „Ossietzky“ im Jahr 2014: „Die Analyse der US-Strategen besagte: Die Supermacht UdSSR und ihre mehr oder weniger sicheren Bündnispartner in Osteuropa sind sturmreif. Jetzt und hier geht es also ums Ganze!“

Die sowjetische Führung unter dem im Frühjahr 1985 ins Amt gekommenen KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow wusste zumindest um die eigenen Probleme. Sie suchte den Ausweg in Reformen und indem die anderen realsozialistischen Länder aus der Moskauer Vormundschaft entlassen wurden, neben der weitgehenden Annäherung an den Westen, auf Hilfe vom einstigen Gegner hoffend. So kam es, dass es bereits gegen die bekannten vorsichtigen Pläne Ungarns, die Grenze zum Westen zu öffnen, keinen sowjetischen Widerspruch gab.

Hilfe nicht für jeden


Als Bundesaußenminister Genscher Ende September in New York mit Polizei-Blaulicht zu seinem sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse fuhr und um Hilfe bat, die Situation der völlig überfüllten Prager BRD-Botschaft zu klären, wurde er nicht abgewiesen. Das berichtete kürzlich Frank Elbe im Sputnik-Interview, der Büroleiter von Genscher war. In den Erinnerungen des verstorbenen Bundesaußenministers wird Schewardnadses Antwort so wiedergegeben: „Ich helfe ihnen.“ Die Außenminister waren damals gerade zur UN-Vollversammlung in New York.

Dort war ebenfalls DDR-Außenminister Oskar Fischer anwesend. Der bat bei seinem sowjetischen Amtskollegen erfolglos um Hilfe „gegen Westdeutschlands revanchistische Intentionen“. Nachzulesen ist das in dem Buch „Zündfunke aus Prag“ über die damaligen Ereignisse. Schewardnadse soll geantwortet haben, „dass diese früher so [gewesen sei], heute aber nicht mehr geh[e], denn heute hab[e] man Demokratie“. Er habe empfohlen, die Ausreisewilligen ziehen zu lassen.

Buchautor Karel Vodička zufolge hat Fischer gegenüber DDR-Partei- und Staatschef Honecker festgestellt, dass die BRD für die sowjetische Führung wichtiger geworden sei als das „Bruderland“ DDR. Man habe „vermehrt mit nachlassender Unterstützung aus Moskau zu rechnen“. Vodička weiter: „Honecker ist ab diesem Moment auf sich allein gestellt. Künftig kann er nicht mehr ohne weiteres auf die Unterstützung der Sowjetunion, in militärischer und politischer Hinsicht, bauen.“

Hilflose DDR-Reaktion


Moskau habe auf die Informationen von Schewardnadse hin Druck auf Ost-Berlin ausgeübt, berichtete unlängst der ehemalige Staatsekretär im bundesdeutschen Auswärtigen Amt, Jürgen Sudhoff, bei einer Veranstaltung. Er gehörte damals zu jenen, die versuchten, die Lage in den Botschaften im Sinne Bonns zu klären. Das Ergebnis: Der Ständige Vertreter der DDR in Bonn, Horst Neumann, informierte am 30. September morgens die Bundesregierung, die Botschaftsbesetzer aus der DDR dürften in die Bundesrepublik ausreisen. Mit der Nachricht flog dann Genscher am Abend nach Prag, wo er sie auf dem Botschaftsbalkon verkündete.

Zu den hilflosen Reaktionen der DDR-Führung gehörte, dass die Ausreisewilligen nur in Sonderzügen über das eigene Territorium in die BRD fahren durften. Damit wollte die SED-Spitze noch einmal die längst verlorene DDR-Souveränität unter Beweis stellen. Sie erreichte aber nur noch mehr Aufmerksamkeit für die Fluchtbewegung selbst im eigenen Land. Das führte zu Sympathiebekundungen an den Fahrstrecken und zu gewalttätigen Protesten wie denen am 4. und 5. Oktober 1989 in Dresden.

In Genschers Erinnerungen ist zu lesen, dieser habe bereits am 27. September 1989 DDR-Außenminister Fischer zwei Varianten vorgeschlagen: Erstens die direkte Ausreise von Prag in die BRD oder zweitens in Zügen über das DDR-Gebiet. DDR-Vertreter Neubauer habe dann am 30. September in Bonn mitgeteilt, dass Ost-Berlin sich für die zweite Variante entschieden habe.

Grenzöffnung als Ventil


Und so nahmen gewissermaßen in einer letzten souveränen Zuckung MfS-Mitarbeiter den ausreisenden DDR-Bürgern in den Zügen die Personalausweise ab und gaben sie nicht zurück. Eigentlich sollten sie verabredungsgemäß nur mit Stempeln die Ausreise bestätigen. Das geschah im Beisein von jeweils zwei Beamten aus dem Auswärtigen Amt und dem Kanzleramt, die in den Sonderzügen als Sicherheit mitfuhren.

Was noch in der Nacht des 30. September in Prag entsprechend der Zusagen der DDR begann, geschah zur gleichen Zeit in Warschau. Dort kümmerten sich Staatssekretär Sudhoff und Franz Bertele, Ständiger Vertreter der BRD in der DDR, um die Ausreisewilligen. Die kampierten in der bundesdeutschen Botschaft und im Warschauer Stadtgebiet. Am Ende fuhren in der Nacht zum 1. Oktober 1989 809 „Deutsche aus der DDR“, wie sie offiziell genannt wurden, in einem Sonderzug von Warschau in die Bundesrepublik. Nachzulesen ist das in einem Bericht des BRD-Botschafters Franz Jochen Schoeller in Polen, der in einer Dokumentensammlung zur deutschen Einheit veröffentlicht wurde.

Kaum waren die Züge in der Nacht zum 1. Oktober 1989 abgefahren, kamen neue ausreisewillige DDR-Bürger in die BRD-Botschaften. In Prag versuchten die tschechoslowakischen Behörden noch, das zu verhindern, scheiterten aber am Ende. Die DDR-Regierung beklagte sich, Bonn halte sich nicht an Absprachen, niemand mehr in die eigenen Botschaften zu lassen. Am Ende half das alles nichts mehr. Der letzte hilflose Befreiungsschlag der neuen SED-Führung unter Egon Krenz – ein Reisegesetz mit Reisefreiheit für alle DDR-Bürger – führte nur zur überraschenden unkontrollierten Grenzöffnung am 9. November 1989.

zuerst veröffentlicht auf sputniknews.com

Freitag, 20. September 2019

Serie DDR 1989/90: „Eine nicht notwendige Dummheit“ – Wie die DDR-Kommunalwahl 1989 gefälscht wurde

Von Tilo Gräser

Die DDR-Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 hatten vorgegebene Ergebnisse. Diese Wahlfälschung gilt allgemein als einer der Auslöser vor 30 Jahren für die Proteste der DDR-Bürger gegen die Partei- und Staatsführung. Zeitzeugen haben in Berlin daran erinnert. Dabei wurde auch ein hohes Maß an subjektivem Empfinden offenbar.


Stefan Müller wurde 1989 von der DDR-Staatssicherheit mehrmals verhaftet. Er hat damals gemeinsam mit Freunden und anderen Aktivisten in Berlin auf die gefälschte Kommunalwahl vom 7. Mai des Jahres in der DDR aufmerksam gemacht. Das geschah an jedem 7. der Folgemonate und im September 1989 auf dem Alexanderplatz. Dort wurden sie von Mitarbeitern der Staatssicherheit wieder verhaftet, was laut Müller ziemlich brutal geschah. Ihm wurde der rechte Arm gebrochen, wie er sich am 7. Mai 2019 erinnerte.

Gemeinsam mit Evelyn Zupke, einer Aktivistin aus Berlin-Weißensee, berichtete der Berliner, wie er vor 30 Jahren auf die Wahlfälschung aufmerksam zu machen versuchte. Beide sprachen mit der Historikerin Anja Schröter und dem „Spiegel“-Journalisten Peter Wensierski auf einer Veranstaltung der Robert-Havemann-Gesellschaft über die letzten DDR-Kommunalwahlen in Berlin und deren Folgen.

„Keinen Bock mehr auf den Mist“


Der heutige Sozialarbeiter Stefan Müller sagte, er habe damals jede Möglichkeit gesucht, um das „marode System“ der DDR zu ärgern. „Wir sind junge Leute gewesen, wollten an den Veränderungen beteiligt werden und sind ausgegrenzt worden.“ So beschrieb er die damalige Stimmung in seinem Freundeskreis, der vor allem aus Wehrdienst-Totalverweigerern bestanden habe. „Wir hatten keinen Bock mehr auf den Mist.“ Sie hätten den DDR-Funktionären und —Mächtigen zeigen wollen: „Ihr nervt uns und habt das Land runtergeritten!“

Er sei nicht kirchlich gewesen, obwohl sein Vater Pastor war. Aber da die Kirchen in der DDR der einzige Ort waren, wo sich oppositionelle Gruppen treffen konnten, sei er mit zum „Friedenskreis“ in Berlin-Weißensee gegangen. Den hatte Evelyn Zupke mit anderen organisiert, wo die beiden dann aufeinander trafen.

Mit anderen, unter ihnen ein „Inoffizieller Mitarbeiter“ (IM) der Staatssicherheit, haben sie sich damals darauf vorbereitet, die Stimmauszählungen am 7. Mai 1989 zu beobachten. Das war nach dem DDR-Wahlgesetz möglich, wurde ihnen aber mit zum Teil absurden Begründungen erschwert. Gemeinsam organisierten sie danach die Proteste gegen die offiziell verkündeten, falschen Ergebnisse.

Offensichtlich falsches Ergebnis


Was beide aus ihrer Erinnerung berichteten, das gehörte zu den DDR-weiten Protesten nach der Kommunalwahl im Mai 1989. Die war, laut Historikerin Schröter, ein Katalysator für die gestiegene Unzufriedenheit und die zunehmenden Proteste in der DDR-Bevölkerung. Dazu trug bei, dass Egon Krenz, Leiter der zentralen Wahlkommission, am Abend des 7. Mai 1989 verkündete, 98,85 Prozent der Wahlberechtigten hätten mit Ja für die Einheitsliste der „Nationalen Front“ gestimmt, und es hätte nur 1,15 Prozent Nein-Stimmen gegeben.

Doch das war eine offensichtliche Falschmeldung, denn Wahlbeobachter in zahlreichen DDR-Städten hatten festgestellt, dass es bis zu zehn Prozent Nein-Stimmen gab. In Berlin-Weißensee wurden beispielsweise amtlich 1.011 Nein-Stimmen bei 42.007 gültigen Stimmen für den Wahlvorschlag verkündet, wie Müller und Zupke am Dienstag berichteten. Sie präsentierten ihre damalige Auswertung, nach der es in 66 von 67 Wahllokalen 2261 Nein-Stimmen und 25.797 Ja-Stimmen gegeben hatte. Auch sei offiziell die Wahlbeteiligung deutlich höher angegeben worden, als sie tatsächlich war.

Wahlkabinen im Abseits


Moderator Wensierski ließ sich im „Stasi-Unterlagenarchiv“ im ehemaligen Ministerium für Staatssicherheit (MfS) von den beiden Aktivisten erklären, wie diese Wahl nach bewährtem DDR-Muster funktionierte. Dazu habe es einen Wahlzettel mit einer Einheitsliste von Kandidaten der „Nationalen Front“ gegeben. In dieser waren die fünf Parteien der DDR, allen voran die SED, zusammengefasst.

Traditionell mussten und konnten die Wähler auch im Mai 1989 nicht zwischen verschiedenen Kandidaten wählen. Sie sollten eigentlich nur den Wahlzettel falten und in die Wahlurne einwerfen, was als Ja-Stimme gewertet wurde. Zwar habe es in den Wahllokalen auch Wahlkabinen gegeben, erinnerte Zupke. Aber die hätten so gestanden, dass alle, die sie benutzen wollten, einen längeren Weg vor den Augen der offiziellen Wahlhelfer bewältigen mussten.

Das habe dazu geführt, dass viele die Kabinen gar nicht erst benutzten, so Zupke. Dazu habe „eine gehörige Portion Mut“ gehört, behauptete Moderator Wensierski. Zupke meinte, wer das tat, hätte danach Ärger bekommen. Der Autor dieser Zeilen hat das nach der Wahl am 7. Mai 1989 nicht erlebt, nachdem er die Wahlkabine benutzte und in dieser mit „Nein“ stimmte. Allerdings lag dafür in der Kabine tatsächlich nur ein Bleistift aus.


Wahlergebnis auf Anordnung von oben


Allerdings war es nicht so einfach, eine gültige Nein-Stimme abzugeben. Wer nicht alle Namen der Kandidaten einzelnen durchgestrichen hatte und sein „Nein“ anders kundtat, dessen Wahlzettel wurde als Ja-Stimme gezählt, berichteten die Zeitzeugen am Dienstag. Sie wollten damals mit ihrer vorbereiteten Wahlbeobachtung und ihren Protesten bei den DDR-Behörden danach auf den Betrug an den Wählern aufmerksam machen und die DDR-Bürger wachrütteln, wie sie erklärten.

Die falschen offiziellen Ergebnisse kamen auf Anordnung von oben zustande. In Ost-Berlin hatte der damalige Oberbürgermeister Erhard Krack von der SED den Stadtbezirken bereits vor dem Wahltag die Prozente der Ja-Stimmen vorgegeben. Ähnliches ist aus den anderen DDR-Bezirken bekannt geworden. Auch die Reaktionen auf die erwarteten Proteste gegen die Ergebnisse seien vorbereitet worden, berichteten die Podiumsteilnehmer am Dienstag. So habe Staatssicherheitsminister Erich Mielke persönlich vorgegeben, wie die Antworten auf die Eingaben von Bürgern zu formulieren seien.

Krenz heute: „Nicht notwendige Dummheit“


„Das war natürlich eine Dummheit, die wir selbst zu verantworten hatten.“ So kommentierte 30 Jahre später der damalige Leiter der DDR-Wahlkommission Egon Krenz gegenüber Sputnik die Wahlfälschung. Er verwies darauf, dass das DDR-Wahlgesetz noch aus den 1950er Jahren stammte und nicht mehr zeitgemäß war.

„Die Sache wäre überhaupt nicht notwendig gewesen. Ein anderes Ergebnis hätte überhaupt nichts an den Machtverhältnissen in der DDR geändert.“ Das sei zwar korrigierbar gewesen, habe aber die Stimmung in der DDR negativ verändert, gestand Krenz ein. Er habe aber nicht zur Wahlfälschung angestiftet, sagte er. Das habe ein entsprechendes Strafverfahren gegen ihn bewiesen, das ohne Urteil gegen ihn endete. Insgesamt seien 20 DDR-Funktionäre wegen der gefälschten Wahlergebnisse vom 7. Mai 1989 in der vereinigten Bundesrepublik angeklagt und verurteilt worden, hieß es am Dienstag.

Freie Wahlen ohne Sieg der Bürgerbewegung


Die beiden damaligen Wahlbeobachter Zupke und Müller meinten, sie seien enttäuscht gewesen, dass dann bei den letzten und freien Wahlen der DDR am 18. März 1990 zur Volkskammer die Bürgerbewegten so schlecht abschnitten. Ihre Vertreter in verschiedenen Gruppen bekamen damals insgesamt nur knapp über fünf Prozent. Großer Sieger war die ehemalige Blockpartei CDU mit 40,8 Prozent, bereits von der bundesdeutschen Schwester-Partei gleichen Namens unterstützt. Damit wurde der Weg in die schnelle Einheit geebnet.

„Die Stimmung war: Da sind wir wieder fünf Prozent unter uns“, erinnerte sich Müller an den Wahlausgang. Aber ihm und seinen Freunden sei auch klar gewesen, dass es eine demokratische Entscheidung war, bei der sich die Mehrheit der DDR-Wähler für den Westen entschieden habe. Er habe gedacht: „Das ist immer noch besser, als den Osten zu behalten.“ 

Immer noch Angst vorm Sozialismus? 


Der einstige Bürgerbewegte aus der DDR betonte wie seine Mitstreiterin Zupke, mit Blick auf die Wahlen in diesem Jahr, es sei wichtig, wählen zu können und zu gehen. Und fügte hinzu, dass er neben rechten Parteien auch die aus der SED hervorgegangene Partei Die Linke für weiterhin „unwählbar“ halte. In deren zweiter Reihe „sitzt noch die alte Garde“, behauptete Müller tatsächlich.

Ein ähnlich eigenartiges politisches Urteilsvermögen hatte die einstige Aktivistin Zupke am selben Tag, Stunden vorher, in einem Interview mit dem Sender „Deutschlandfunk“ gezeigt. Dessen Moderator hatte sie gefragt, was sie von den Ideen des Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert halte, Konzerne wie BMW zu kollektivieren – obwohl es um die DDR-Kommunalwahl vor 30 Jahren ging. Zupke sieht solche Gedanken als „Verhöhnung weiter Teile der Gesellschaft der ehemaligen DDR“. Sie wollte Kühnert am liebsten „ein Ticket nach Venezuela, Nordkorea oder Kuba schenken, damit er sich ein Bild machen kann über die realen Konsequenzen seiner Fantasien“.

zuerst erschienen auf sputniknews.com am 8.5.2019


Donnerstag, 19. September 2019

Serie DDR 1989/90: Vor 30 Jahren in der DDR – Außer „Mauerfall“ nichts gewesen?

von Tilo Gräser

Die DDR 1989, in ihrem vierzigsten und letzten Jahr, ist 30 Jahre später Thema für Medien, Politik und Gesellschaft der 1990 vereinigten Bundesrepublik. Oftmals wird der Blick dabei auf den 9. November 1989 reduziert, als wie nebenbei die deutsch-deutsche Grenze geöffnet wurde. Doch in dem Jahr geschah in der DDR viel mehr.

„Wenn man den Mauerfall, der  ja tatsächlich eine Maueröffnung gewesen ist, in den Mittelpunkt stellt und ausblendet, was sich sonst noch zwischen Oktober 1989 und Oktober 1990 vollzogen hat, dann kann man wunderbar den Zusammenbruch der DDR beschreiben.“ So erklärte der Historiker Stefan Bollinger gegenüber Sputnik die vorherrschende Sicht auf die Ereignisse in der DDR vor 30 Jahren. „Da kann man sagen, dieser Staat war vermutlich von Anfang an so marode und zersetzt, dass das ganz folgerichtig war.“

Es handle sich um den „nicht ganz erfolglosen Versuch“, die Geschichte eines Landes von ihrem Ende her zu erzählen, so Bollinger. Dabei werde ausgelassen, was am Anfang war. Für den ostdeutschen Historiker ist die Frage wichtig, was im Herbst 1989 das Ziel jener war, die in der DDR für Veränderungen eintraten – auf den Straßen, in der Bürgerbewegung und auch in der Staatspartei SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands).

Das Land habe im Sommer und Frühherbst 1989 in einer tiefen Krise gesteckt, wirtschaftlich und vor allem politisch. Die politische Führung, das Politbüro der SED, habe es nicht mehr verstanden, die Fragen der DDR-Bürger zu beantworten und auf deren Wunsch, dass sich etwas ändert, zu reagieren. Dazu seien die Kräfte um SED-Generalsekretär Erich Honecker nicht mehr in der Lage gewesen, „geschweige denn, einen irgendwie gearteten Reformkurs einzuleiten“.

Reformstau im Realsozialismus


Diese Situation habe eine Vorgeschichte gehabt, wozu der Allmachtanspruch einer angeblichen Avantgarde-Partei gehört habe. Dazu habe ein „sehr eingeschränktes Verständnis von Demokratie“ gehört, hob der Historiker hervor. Es habe sich eine Gesellschaft herausgebildet, die nicht verstanden habe, dass sie sich nur entwickeln kann, wenn sie sich selbst immer wieder in Frage stellt und in Diskussionen versucht, Probleme zu lösen und neue Wege zu finden.

Die Entwicklung in der DDR in den letzten Jahren bis 1989 sei eingebunden gewesen in eine veränderte internationale Lage. Zu dieser habe gehört, dass es zu Veränderungen in der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern kam. Bollinger verwies dabei auf den „zwanzigjährigen Entwicklungsverlust“ seit den 1960er Jahren, seitdem der „Prager Frühling“ 1968 niedergewalzt wurde.

Das habe vor allem für die wissenschaftlich-technische Entwicklung der realsozialistischen Wirtschaften gegolten. Damalige Versuche seien aus Angst vor den politischen Konsequenzen abgebrochen worden, wodurch es einen Reformstau gegeben habe. In der DDR sei die unter Ulbricht mit dem „Neuen Ökonomischen System“ eingeleitete Wirtschaftsreform Opfer dieser Ängste der Dogmatiker in Moskau und Berlin geworden.

Fluchtwelle als Antwort der DDR-Bürger


Die DDR-Bürger hätten mit der Zeit festgestellt, „die eigene Gesellschaft entwickelt sich nicht mehr so erfolgreich, wie das im ‚Neuen Deutschland‘ jeden Tag drin steht“. Die wachsenden Erwartungen seien nicht mehr befriedigt worden, während gleichzeitig in den anderen sozialistischen Staaten anscheinend politisch Einiges in Bewegung geriet. Selbst ein Parteiführer wie Michail Gorbatschow in der Sowjetunion habe erklärt, dass der Sozialismus die Demokratie wie die Luft zum Atmen benötige, erinnerte der Historiker.

Dieses gesellschaftliche Gemisch habe sich im Sommer 1989 zuerst in der Flucht von zehntausenden vor allem jüngerer Menschen aus der DDR entladen. Aus Sicht von Bollinger gab es im Herbst vor 30 Jahren noch die allerdings immer mehr schwindende Alternative, die DDR weiter zu entwickeln und zu erneuern. Das hätten selbst viele Bürgerbewegte sowie Reformkräfte in der SED und in der DDR-Partei- und Staatsführung gewollt. Dafür stehe das Datum 4. November 1989, als rund 500.000 Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz für eine veränderte DDR demonstrierten statt aus ihr wegzulaufen. Bollinger hat dies in einer Reihe von Publikationen beleuchtet.

Die andere Alternative, vertreten damals noch nur von einer Minderheit, sei gewesen, dieses „Experiment DDR“ zu beenden und den Weg in die Bundesrepublik zu nehmen. Wer das wollte, habe sich durch den 9. November, die Öffnung der DDR-Grenzen, bestätigt gefühlt, meinte der Historiker rückblickend.

„Kalter Staatsstreich“ am 9. November 1989


Er hat kürzlich in einem Beitrag in der Zeitschrift „Ossietzky“ die Öffnung der Grenzen vor 30 Jahren als „kalten Staatsstreich“ bezeichnet. Damit habe die SED-Führung für Ruhe auf den eigenen Straßen sorgen wollen. Das sei geschehen, nachdem sie sich vorher nur mühsam dazu durchgerungen habe, endlich etwas zu verändern und Honecker abzulösen, sagte Bollinger auf Nachfrage. Doch die neuen reformorientierten Kräfte um Egon Krenz hätten nicht genau gewusst, „was sie eigentlich wollten, geschweige denn, wie sie es wollten“.

Die Gesellschaft der DDR habe sich nach dem Personalwechsel und den angekündigten Reformen im Oktober nicht beruhigt. Ebenso sei die Fluchtwelle über die ČSSR und Ungarn nicht abgeebbt. Der schnell vorgelegte Gesetzentwurf für Reisefreiheit habe sein Ziel verfehlt. Das Zentralkomitee (ZK) der SED habe nach einem „Befreiungsschlag“ gesucht, als es vom 8. bis 10. November tagte, erinnerte der Historiker.

Der dabei diskutierte Entwurf eines neuen Reisegesetzes habe das Ziel gehabt, den DDR-Bürgern zu ermöglichen, legal in den Westen zu reisen und wieder zurückzukommen. Davon habe sich die neue Parteiführung versprochen, „den Druck aus dem Kessel zu nehmen“, vermutete Bollinger. Statt weiter montags auf die Straßen zu gehen, hätten sich die Bürger bei den Behörden nach Visa angestellt und wären in die Bundesrepublik gefahren, beschrieb er die Hoffnungen in der SED-Spitze.
Das sei der tiefere Grund für das gewesen, was SED-Politbüromitglied Günter Schabowski auf der legendären Pressekonferenz am 9. November 1989 „auf sehr seltsame Art und Weise“ verkündete. Bollinger hält für die Geschichte mit dem Zettel „handwerkliches Ungeschick“ des SED-Funktionärs ebenso für möglich wie „großes Kalkül“. „Vermutlich kommt dort Unfähigkeit und politisches Kalkül zusammen.“

DDR-Grenzer mit gesundem Menschenverstand


Für den Historiker bleibt „unentschuldbar“, dass durch Schabowskis anscheinend unüberlegtes Handeln die Sicherheitskräfte der DDR vor eine eigentlich unlösbare Aufgabe gestellt wurden. Ihre Aufgabe sei es gewesen, die Grenze zu sichern und „zuzuhalten“. Bollinger sprach von einem „großen Glück und der hohen Intelligenz sowie dem persönlichen Mut vieler Grenz- und Staatssicherheitsoffiziere der DDR, dass die den gesunden Menschenverstand eingeschaltet haben“.

Sie hätten aus der Einsicht heraus gehandelt, dass das Land im Umbruch ist und die eigene Führung nicht mehr wusste, was sie tut. Deshalb hätten sie die Menschen an den Grenzübergangsstellen in der Nacht vom 9. November nicht mehr aufgehalten. „Ein durchgeknallter Leutnant, der seine zwei Kalaschnikow-Magazine durchgejagt hätte, hätte dabei ein Blutbad anrichten können“, erinnerte er an die damalige Gefahr.

Bollinger verwies zudem darauf, dass die DDR-Führung beschlossen habe, die Grenze zu öffnen, ohne sich mit den Verbündeten im Osten zu verständigen. Ebenso sei nicht mit der Bundesrepublik darüber vorab gesprochen worden. Allerdings erklärte Krenz kürzlich gegenüber Sputnik, das neue Reisegesetz sei mit Moskau abgesprochen gewesen.

Vorgespräche vor der Maueröffnung


Politbüromitglied Schabowski hatte sich am 29. Oktober 1989 mit Walter Momper, damals Regierender Bürgermeister von Westberlin, im Ostteil der Stadt getroffen. Dabei hatte er die volle Reisefreiheit für DDR-Bürger am Dezember angekündigt. Das hat Momper in seinen Erinnerungen an die Ereignisse im Herbst 1989 beschrieben. Die West-Berliner Verwaltung habe sich daraufhin auf einen baldigen Ansturm aus dem Osten vorbereitet, war dann überrascht worden, wie schnell der kam.

Allerdings habe die DDR-Spitze versäumt, von Bonn einen ökonomischen Preis für die geöffnete Grenze auszuhandeln, so Historiker Bollinger. Er erwähnte, dass Alexander Schalck-Golodkowski sich im Auftrag von Krenz am 6. November in Bonn geheim mit Bundeskanzleramtsminister Rudolf Seiters und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble getroffen habe.

Der DDR-Vertreter schlug den beiden laut dem Online-Portal „Chronik der Mauer“ neue Milliardenkredite für die DDR und mehr Wirtschaftskooperation vor, wofür die Grenze schrittweise geöffnet werden solle. Ebenso bat er die Bonner Vertreter darum, die Folgen des neuen Reisegesetzes finanziell zu unterstützen. Online wird das so zusammengefasst: „Seiters und Schäuble zeigen sich gesprächs- und verhandlungsbereit, taktieren jedoch hinhaltend. Schalck erkennt, dass er keinen Verhandlungsspielraum mehr hat.“ Interessant ist dabei, welche politischen Vorgaben Schäuble damals dem DDR-Vertreter machte.

Schabowskis „Schlag gegen die Souveränität der DDR“


Aus Sicht von Bollinger handelte es sich bei der übereilten, leichtfertigen Grenzöffnung um einen „Schlag gegen die Massenbewegung“ sowie um „einen Schlag gegen die Souveränität der DDR als eigenständigem Staat“. Er könne nicht einschätzen, ob der 2015 verstorbene Schabowski seine Unwissenheit auf der Pressekonferenz am 9. November 1989 nur vorgetäuscht hatte.

Im vergangenen Jahr wurde in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ der Frage nachgegangen, ob sich der SED-Mann nur versprochen hatte. Dagegen hatte 2014 Schabowskis Frau Irina bereits gegenüber der „Bild“-Zeitung erklärt: „Als er den Zettel vorlas, wollte er, dass die Mauer sofort geöffnet wird.“

„Für die kritischen Geister war am Abend des 9. November klar gewesen, dass damit die Bewegung für eine veränderte eigenständige DDR scheitern wird“, so Bollinger zu den Folgen. In seinem „Ossietzky“ Beitrag schrieb er dazu, dass „viele ihrer treibenden Akteure das zunächst nicht wahrhaben wollten und der Zentrale Runde Tisch eine Reformagenda erarbeitete, gegossen in diesen Verfassungsentwurf, während die Entwicklung in der DDR längst fremdbestimmt war, das heißt westdeutsch“.

Ende der eigenständigen DDR-Entwicklung


Mit der geöffneten Mauer sei eine Schleuse geöffnet worden, sagte er im Sputnik-Gespräch, die nicht mehr zu schließen gewesen sei. Der Historiker verwies darauf, dass durch die geöffnete Grenze nicht nur LKW aus dem Westen Bananen in den Osten brachten. Fast unmittelbar mit dem 10. November 1989 hätten sich die politischen Kräfte der Bundesrepublik in die weitere Entwicklung der DDR eingemischt.

Deutliches Zeichen dafür sei der Auftritt von Bundeskanzler Helmut Kohl am 19. Dezember 1989 in Dresden gewesen. „Man muss davon ausgehen, dass das eine mit den USA abgestimmte Entwicklung gewesen ist“, so Bollinger. Spätestens als am 6. Februar 1990 von Kohl angekündigt wurde, die D-Mark in der DDR einzuführen, sei deren eigenständige Entwicklung beendet gewesen.

Für „Linsengericht“ eigenes Land aufgegeben


Folge der geöffneten Mauer vor 30 Jahren sei der „zügige Übergang vom zunächst basisdemokratisch geprägten ‚Wir sind das Volk!‘ zu dem deutsch-nationalistischen ‚Wir sind ein Volk!‘, der Weg von der Selbstermächtigung der Bürger der DDR zur politischen Selbstentleibung der gerade mündig gewordenen DDR-Bürger“ gewesen. Das schrieb Bollinger in „Ossietzky“:

„Die Akteure ließen sich ihren demokratisch-sozialistischen Schneid der ersten Tage mit einer gut gewürzten Linsensuppe westlicher Freiheiten zum Reisen und zum Profitscheffeln abkaufen. Wie gesagt, verständlich und berechtigt Freiheiten einfordernd, aber schlussendlich gegen die eigenen Interessen gerichtet.“

Die Bundesrepublik heute, 30 Jahre später, sei weiterhin „ein Land mit zwei Gesellschaften“, stellte er fest. „Das wird uns langfristig erhalten bleiben.“ Aus den Ostdeutschen würden weiter nur schwer Westdeutsche zu machen sein. Viele Ostdeutsche würden glauben, sie hätten sich in die bundesdeutsche Gesellschaft hineingearbeitet, „aber für die breite Masse wird das nicht stattfinden“.

Beachtenswertes aus 40 Jahren DDR


Für den Historiker ist das aber „das normale Schicksal und Problem von Anschlüssen“, wie er mit Blick auf die Beispiele der Katalanen und der Franko-Kanadier sagte. Er forderte zum Nachdenken darüber auf, was im 41. Jahr der DDR von Oktober 1989 bis Sommer 1990 politisch und gesellschaftlich möglich wurde. Da seien Freiräume entstanden, „die man sich so weder für den Realsozialismus noch für den Realkapitalismus vorstellen konnte“.

Bollinger verwies auf die „breite Form der Mitbestimmung“ im Wirtschaftsbereich wie in der Gesellschaft. Dazu zählten die „Runden Tische“, an denen gemeinsam Lösungen für Probleme gesucht wurden. Davon künde auch der Verfassungsentwurf des Runden Tisches der DDR vom April 1990. Das sei für künftige gesellschaftliche Entwicklungen „nicht uninteressant“, so der Historiker.

Aus seiner Sicht bleibt der Versuch in 40 Jahren DDR beachtenswert, eine nichtkapitalistische Gesellschaft mit einem hohen Grad der Vergesellschaftung und kollektiver Lösungen für Probleme aufzubauen. Der Kapitalismus in seinem aktuellen Zustand werfe Fragen auf, welche die Existenz der Gesellschaft betreffen. Dabei könnten die realsozialistischen Erfahrungen hilfreich sein, ohne wiederholen zu wollen, was war und auf Dauer nicht funktionierte.

„Das hat wenig mit Ostalgie oder Nostalgie zu tun, sondern mit dem Versuch, aus der Geschichte zu lernen“, hob Bollinger hervor. „Es hat mit der Erkenntnis zu tun, dass auch die vereinigte, neue Bundesrepublik mit einer ganzen Reihe von Problemen behaftet ist, die sie vielleicht schon vor der Vereinigung hatte. Die vereinigte Bundesrepublik nach 1990 ist der Versuch, das mit einem neoliberalen System zu lösen. Ostdeutschland war das Experimentierfeld für diese Entwicklung.“

zuerst erschienen auf sputniknews.com am 8.5.19

Serie DDR 1989/90: Untergang der DDR-Wirtschaft ab 1990 – Unvermeidbar oder politisch gewollt?

Von Tilo Gräser

Die Deindustrialisierung des DDR-Gebietes ab 1990 hat bis heute Folgen – von anhaltender Abwanderung gut qualifizierter Ostdeutscher bis zur unzureichenden Wirtschaftsentwicklung. Der Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler hat auf Alternativen aufmerksam gemacht und ein Gegenbeispiel genannt, wie es anders geht.

Die Wiedervereinigung Deutschlands ab 1990 hätte anders verlaufen können, wenn der politische Wille dazu dagewesen wäre. Das gilt laut dem Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler vor allem für die wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands nach dem Untergang der DDR und dessen sozialer Folgen. Für ihn ist die frühere britische Kolonie Hongkong das Beispiel dafür, dass ein solcher Prozess anders gestaltet werden kann.

Roesler sprach am 22. Januar 2019 in Berlin über das Thema „War das Vorgehen der Treuhand alternativlos?“. Bei der Linkspartei-nahen Berliner Stiftung „Helle Panke“ widerlegte er den Mainstream der Zeitgeschichtsschreibung, dem zufolge das Vorgehen der Treuhandanstalt alternativlos war. Diese Institution hatte das Gebiet der DDR deindustrialisiert und für einen Arbeitsplatzabbau historischen Ausmaßes gesorgt.

Der Wirtschaftshistoriker erinnerte dabei nicht nur an alternative Vorstellungen der seit November 1989 amtierenden DDR-Regierung unter Hans Modrow für einen Umbau der bisherigen zentralen Plan-Wirtschaft des Landes. Die damalige Wirtschaftsministerin Christa Luft hatte im Februar 1990 ein Konzept für eine radikale  Wirtschaftsreform entwickelt, um die strukturellen Defizite der DDR-Ökonomie zu beheben, Plan und Markt zu verbinden und eine schrittweise wirtschaftliche Kopplung der beiden deutschen Staaten zu ermöglichen.

Warnungen vor Schock-Therapie

Das stand dem Plan einer schnellen Währungs- und Wirtschaftsunion entgegen. Mit der Wahl vom 18. März 1990 war das Konzept aber nur noch eines für die Archive. Solche Vorstellungen spielten in der Folge kaum eine Rolle für die Umsetzung des vom Runden Tisch in der DDR im Februar 1990 vorgelegten „Vorschlag zur umgehenden Bildung einer Treuhandgesellschaft (Holding) zur Wahrung der Anteilsrechte der Bürger mit DDR-Staatsbürgerschaft am Volkseigentum der DDR“. Die Treuhand wurde entgegen den ursprünglichen Zielen benutzt, um die DDR-Wirtschaft zu zerstören.

Auch in der alten Bundesrepublik sei vor einer Schock-Therapie für die DDR-Wirtschaft, wie sie umgesetzt wurde, gewarnt worden, erinnerte Roesler. So habe Bundesbank-Direktor Günter Storch im Dezember 1989 die Studie „Ansätze für eine Wirtschaftsreform in der DDR und begleitende Hilfsmaßnahmen der Bundesrepublik“ vorgelegt. Darin sei der Umbau der DDR-Wirtschaft in eine Marktwirtschaft als „Neuland“ bezeichnet worden, für den es keine brauchbare Theorie und keinerlei praktische Handlungsanweisungen gebe.

Storch habe geschrieben, dass das nicht zwangsläufig bedeute, die bisherigen Staatsbetriebe zu privatisieren. Diese könnten in einer Marktwirtschaft gleichfalls eigenverantwortlich handeln. Der Bundesbank-Direktor, einer von sieben, habe es abgelehnt, die DDR-Wirtschaft in einem Schritt vollständig zu liberalisieren. Er warnte laut Roesler, dass „mit einer schockartigen Anpassung beträchtliche Übergangsprobleme wie Arbeitslosigkeit und Unternehmenszusammenbrüche verbunden seien“. Deshalb habe Storch sich für einen schrittweisen Umbau ausgesprochen, „um soziale Härten möglichst gering zu halten“.

Klare Vorhersagen der Folgen

Doch darauf wurde ebenso wenig gehört wie auf andere warnende Stimmen. Zu diesen habe Roland Götz-Coenenberg vom Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien Köln gehört. Dieser habe sich im Februar 1990 gegen die damalige öffentliche Stimmungsmache für eine schnelle Währungsunion gewandt. Er habe für einen solchen Fall „die Wahrscheinlichkeit des wirtschaftlichen Zusammenbruchs weiter Teile der DDR-Wirtschaft“ vorausgesagt, „die der plötzlich einsetzenden Weltmarktkonkurrenz nicht gewachsen seien“.

Der Wissenschaftler habe ebenfalls davor gewarnt, dass die bisherige DDR-Industrie auch ihre wichtigen Absatzmärkte in Ost- und Mitteleuropa verliere, wenn die D-Mark schnell eingeführt werde. Die bisherigen Kunden könnten dann die gestiegenen Preise in Devisen nicht bezahlen. „Die rasche Währungsunion, die als kluger Schachzug gelte, wird sich in sein Gegenteil verkehren“, zitierte Roesler die Vorhersage von Götz-Coenenberg. Dieser habe sich ebenfalls für eine stufenweise Anpassung der Wirtschaftsstrukturen der DDR an die der BRD ausgesprochen.

Doch solche Stimmen der wirtschaftlichen Vernunft seien gegen den politischen Willen der Regierenden um Kanzler Helmut Kohl und seiner Verbündeten in der Noch-DDR nicht angekommen. Eine Reihe der warnenden, aber ignorierten Experten hätte sich danach enttäuscht zurückgezogen. Roesler erinnerte dabei neben dem Bundesbankpräsidenten Karl Otto Pöhl, der im Februar 1990 vor den Kosten einer schnellen Währungsunion gewarnt hatte, auch an den 1991 ermordeten Treuhand-Chef Detlev Rohwedder. Der habe Mitte 1990 erklärt, 70 bis 80 Prozent der Ost-Betriebe könnten überleben.

Wahlergebnis vom März 1990 als Argument

Später sei der Treuhand-Chef vorsichtiger geworden und habe sich nur noch für ein behutsames Schließen, Sanieren und Privatisieren der DDR-Betriebe ausgesprochen. Roesler zitierte aus einem Brief von Rohwedder an alle Treuhand-Mitarbeiter vom März 1991, der nach seiner Ermordung in seinem Schreibtisch entdeckt worden sei:

„Privatisierung ist die wirksamste Sanierung. Die Treuhandanstalt darf nicht das Ziel ändern, aber sie hat das Tempo im Einzelfall und insgesamt unter Berücksichtigung der sozialen, wirtschaftlichen und finanziellen Folgen abzuwägen.“

Rohwedder habe die von ihm angestrebte rücksichtsvolle Vorgehensweise nicht mehr umsetzen können, so der Wirtschaftshistoriker. Er sagte, dass die Wahlergebnisse vom 18. März 1990 mit einer großen CDU-Mehrheit von den Befürwortern einer schnellen Währungsunion für ihren Kurs genutzt wurden. Damit sei die geplante kompromisslose Transformation der DDR-Wirtschaft umgesetzt worden. Die versprochenen positiven Folgen seien aber nicht eingetreten – bis heute nicht.

Warnungen bestätigt

Dagegen sei es zu einer flächendeckenden Deindustrialisierung des Gebietes der DDR gekommen. Roesler belegte das mit Analysen des Ökonomen Jan Priewe über die sozialen Folgen der Schocktherapie für Ostdeutschland. So seien rund 11.000 ostdeutsche Unternehmen und Betriebsteile vom Juli 1990 bis Dezember 1992 privatisiert worden.

Dabei seien 68 Prozent der Arbeitsplätze abgebaut worden: Von mehr als vier Millionen Beschäftigten im „Treuhand-Imperium“ 1990 seien nur 1,3 Millionen in den privatisierten sowie noch von der Treuhand kontrollierten Unternehmen übriggeblieben. Von über 3,2 Millionen Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe der einstigen DDR 1989 hätten drei Jahre späte nur noch rund 750.000 Arbeit gehabt.

So seien die düsteren Vorhersagen bundesdeutscher Wirtschaftsexperten wie Storch und Götz-Coenenberg „in hohem Maße erfüllt“ worden. Roesler beantwortete die „berechtigte Frage, was wäre geschehen, wenn sich nicht die Befürworter, sondern die Warner vor einer raschen und rücksichtslosen Transformation durchgesetzt hätten“, mit dem Beispiel Hongkong.

Reales Gegenbeispiel

Die ehemalige britische Kronkolonie wird seit 1997 mit China wiedervereinigt, auf Grundlage eines Abkommens von Peking und London von 1984. Darin sei eine Übergangzeit von 50 Jahren nach dem Prinzip „Ein Land – zwei Systeme“ vereinbart worden, hob der Historiker hervor. Die Entwicklung Hongkongs seit der offiziellen Rückkehr zu China 1997 zeige die positiven Wirkungen für beide Seiten durch den schrittweisen Übergang, im wirtschaftlichen wie im sozialen Bereich.

Die kommunistische Führung in Peking hätte auch den Kapitalismus in der Kronkolonie plattmachen können, antwortete Roesler auf zweifelnde Fragen aus dem Publikum zu dem Beispiel. Daran sei vor allem wichtig, dass ein entsprechender politischer Wille alternative Wege bei einer Wiedervereinigung ermögliche.

Bewusste Zerschlagung der DDR-Wirtschaft

In der Diskussion in der Veranstaltung bei der „Hellen Panke“ erinnerten Zeitzeugen an die Vorgänge unter der Regie der Treuhand und daran, dass die bundesdeutschen Unternehmen keine ostdeutsche Konkurrenz wollten. So stellte unter anderem Eckhard Netzmann, 1990 Vorstand der Kraftwerksanlagenbau AG, klar, dass es sich nicht um eine Wiedervereinigung gehandelt habe, sondern die DDR der BRD beigetreten sei. Er habe der Zeitschrift „Wirtschaftswoche“ 1992 erklärt, wie die Treuhand arbeite, „dass in allen Positionen vorgeschobene Pharisäer, trojanische Pferde der westdeutschen Konzerne sitzen“. Und fügte hinzu: „Die kannte ich zum Teil.“

„Die Wirtschaft der DDR wurde bewusst zerschlagen, filetiert“, sagte Netzmann unter Zustimmung aus dem Publikum, aber auch von Roesler. „88 Prozent sind in den Händen der BRD gelandet,  sechs Prozent im Ausland. Und dann waren noch sechs Prozent tollkühne Ossis, die aus der Reparaturabteilung eine Werkstatt für Elektro oder ähnliches gemacht haben.“

Der Zeitzeuge erinnerte an eine weitere Folge: „Zwei Millionen ausgebildete Arbeitskräfte der verschiedenen Berufe des Ostens zogen nach dem Westen und bringen dort ihre Steuern ein. Im ganz schlechten Tausch haben wir eine Million Beamte, Juristen, Politiker und so weiter übernommen.“ Netzmann äußerte Zweifel am Nutzen alternativer Überlegungen zu historischen Vorgängen.

Kein Freispruch für Verantwortliche

Er sagte voraus, dass die Lage der ostdeutschen Wirtschaft mit ihren selbst von der Bundesregierung eingestandenen Defiziten sich in den nächsten Jahrzehnten nicht ändern werde. In einem anderen Interview habe er 1992 bereits vor den Folgen gewarnt, die damals schon absehbar gewesen seien: „In Deutschland ewig die Ossis!“

Der von Roesler zitierte Ökonom Priewe bestätigte in der Debatte zum Vortrag, dass nach den März-Wahlen 1990 klar war, dass die DDR-Wirtschaft keine Chance hatte. Das hätten damals viele nicht verstanden. Die DDR hätte theoretisch nur als „extremes Niedriglohn-Gebiet im Verhältnis zu Westdeutschland“ bestehen können. Doch mit der einheitlichen Währung und wegen der  offenen Grenzen – „ökonomisch teuflisch“ – sei das praktisch unmöglich gewesen.

Priewe stimmte aber zu, dass die Bundesregierung bei entsprechendem politischem Willen „viel mehr“ für die ostdeutsche Wirtschaftsentwicklung hätte tun können. Was möglich ist, habe später die Bankenrettung ab 2008 gezeigt. In der untergehenden DDR und dann Ostdeutschland habe aber eine politische Kraft gefehlt, die sich dafür hätte einsetzen können, während vereinzelter Protest einiges bewirkt habe.

Wirtschaftshistoriker Roesler erklärte zum Abschluss der Veranstaltung, das erste Quartal 1990 sei für die weitere Entwicklung Ostdeutschlands entscheidend gewesen. Es hätten in Bonn andere Entscheidungen fallen müssen – „Das ist die Anklage!“ Die damals in der BRD Verantwortlichen Wie Kohl und Wolfgang Schäuble trügen die „eindeutige moralische Schuld“ für das, was geschah und die Folgen: „Es hätte nicht so kommen müssen! Es gibt keinen Freispruch für die Entscheidung, die die Bundesregierung im März 1990 gefällt hat.“

Lesetipp:
Jörg Roesler: „Aufholen, ohne einzuholen! Ostdeutschlands rastloser Wettlauf 1965-2015. Ein ökonomischer Abriss“
Verlag Edition Berolina 2016. 192 Seiten. ISBN: 9783958410428. 14,99 Euro

Beitrag zuerst erschienen bei sputniknews.com am 23.1.19