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Freitag, 31. Januar 2020

Serie DDR 1989/90: Jubelfeier im Palast und Protest auf der Straße – Hans Modrow über die DDR 1989. Teil 1

Von Tilo Gräser

Als Hoffnungsträger haben viele in der DDR im Herbst 1989 den damaligen SED-Bezirkschef von Dresden, Hans Modrow, gesehen. Der heute 91-Jährige und vorletzte DDR-Ministerpräsident hat sich im Sputnik-Gespräch an die damaligen Ereignisse erinnert. Das ist in einem dreiteiligen Beitrag nachzulesen. Im ersten Teil geht es um den Oktober 1989.

„Die DDR befand sich in ihrem 40. Jahr bereits in einem Vakuum, das dann zur Implosion führte.“ So schätzte Hans Modrow, vorletzter Ministerpräsident des untergegangenen Landes und einstiger Hoffnungsträger, im Gespräch mit Sputnik die Lage in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) vor 30 Jahren ein. Der heutige Vorsitzende des Ältestenrates der Partei Die Linke betonte, dass sich die instabile Lage des Landes schon ab Ende 1988 zeigte.

Modrow wurde 1989 als vorletzter Ministerpräsident „zum akkuraten Sinnbild einer sterbenden Republik – deren Hilflosigkeit ebenso dokumentierend wie ihren würdevollen Trotz“. Das schrieb der Journalist Hans Dieter Schütt in der Einleitung des 1998 veröffentlichten Modrow-Buches „Ich wollte ein neues Deutschland“.

Selbst ins Visier geraten


Gegenüber Sputnik erinnerte er sich daran, dass 1988 auf seinen Bericht über Probleme und die Stimmung im Bezirk Dresden nicht reagiert wurde. Stattdessen habe ihm, dem damaligen SED-Bezirkssekretär für Dresden, die Parteispitze eine Kommission mit Politbüromitglied Günter Mittag und fast 100 Leuten auf den Hals geschickt. Die habe nicht über die realen Probleme gesprochen, sondern vor allem seine Arbeitsweise kritisiert. Im Juni 1989 sei er dann auf einer Tagung des SED-Zentralkomitees (ZK) erneut angegriffen worden.

Statt sich mit den realen Verhältnissen auseinandersetzen, sei die Führung der Sozialistischen Einheitspartei (SED) weiter von einer „heilen Welt“ ausgegangen, erinnerte sich Modrow. Diese Sicht habe sich in den meisten realsozialistischen Staaten gezeigt. Das habe sich im Juli 1989 zugespitzt, als die Mitgliedsstaaten des „Warschauer Vertrages“ auf ihrem Treffen in Bukarest nicht über die bereits geöffnete Grenze zwischen Ungarn und Österreich sprachen.

Dabei habe sich die von KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow ausgegebene Linie durchgesetzt, dass jedes Land für sich selbst verantwortlich sei. Damit sei klar gewesen, dass im bisherigen Bündnis keine gemeinsamen Fragen mehr diskutiert wurden – „sondern jeder steht für sich, und wie sich später auch zeigte: Jeder nimmt sein eigenes Ende.“

SED-Spitze ignorierte Realität


Innerhalb der DDR sei damals ein besonderes Vakuum entstanden, so Modrow. SED-Generalsekretär Erich Honecker sei im Juli 1989 erkrankt ausgefallen. „Die bis dahin übliche Vertretung durch Egon Krenz erfolgt zunächst nicht. Die Vertretung übernimmt Günter Mittag, der offensichtlich für Honecker in dieser Situation zuverlässiger als Krenz erschien.“

Das habe dann zu einer Situation der Sprachlosigkeit der SED-Führung angesichts der wachsenden Probleme der DDR geführt. Die politische Führung sei nicht mehr in der Lage gewesen, die Realitäten zu analysieren und ihnen Rechnung zu tragen, so Modrow im Rückblick.

Die politische Begriffe und Parolen der SED hätten ihren Inhalt verloren: „Der 40. Jahrestag der DDR wurde in einem Palast, dem ‚Palast der Republik‘ gefeiert und das Volk steht vor der Tür und macht seinen Protest.“ Am 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der Gründung der DDR, kam es in Berlin zu Demonstrationen, gegen die die Sicherheitsbehörden zum Teil brutal vorgingen.

Dresden, 4.10.1989: Nicht ohne Bonner Zustimmung


Modrow äußerte sich auch zu den Ereignissen am 3. und 4. Oktober  1989 in Dresden. Bei diesen habe sich gezeigt, wie verflochten die DDR und die Bundesrepublik bereits gewesen seien, betonte er. Das werde bis heute in der Geschichtsschreibung nicht offen gelegt. An diesen Tagen waren Sicherheitskräfte gegen jene gewaltsam vorgegangen, die den Dresdner Hauptbahnhof belagert haben. Grund dafür war, dass die Züge mit den Botschaftsflüchtlingen aus Prag über das DDR-Gebiet und dabei am 4. Oktober durch die sächsische Bezirksstadt fuhren. Ausreisewillige versuchten auf dem Bahnhof, in die Züge zu kommen. Modrow wurde 1996 in dem Zusammenhang wegen Falscheides zu zehn Monaten auf Bewährung verurteilt.

Diese Fahrt der Züge sei nur möglich gewesen, weil alle drei beteiligten Staaten – die ČSSR, Die DDR und die BRD – sich darauf geeinigt hätten, stellte Modrow 30 Jahre später klar. Die Bundesregierung habe damals anerkannt und zugestimmt, dass die Flüchtlinge aus der Prager Botschaft mit der Fahrt der Züge durch die DDR aus deren Staatsbürgerschaft entlassen werden. In den Zügen seien auch Beamte der Bundesrepublik mitgefahren.

„Honecker und die DDR-Staatsführung wollten nicht, dass vor dem 40. Jahrestag Staatsbürger in dieser Zahl die DDR verlassen. Sie waren der Meinung: Wir sind ein souveräner Staat und wir entscheiden über die Staatsangehörigkeit. Das war die Grundaussage, die dazu führte, dass die Züge durch DDR-Gebiet fahren mussten.“

Sein Gesprächspartner in Berlin am 4. Oktober 1989 sei der Verkehrsminister Otto Arndt gewesen. Dieser habe sich „in seiner Hilflosigkeit“ bei ihm gemeldet, erinnerte sich Modrow. Arndt habe die Entscheidung über den Kurs der Züge auch für falsch gehalten. Die ihm unterstehende damalige Transportpolizei der DDR habe sich nicht in der Lage gesehen, die notwendige Sicherheit zu gewährleisten und ein Chaos zu verhindern.

Fatale Situation entstanden


Es habe eine Katastrophe gedroht, sei klar gewesen. Arndt habe gesagt, dass in der Partei- und Staatsspitze niemand anders für Modrow bereit gestanden habe, um die Probleme zu lösen. Für ihn selbst sei die Volkspolizei der DDR der Ansprechpartner gewesen. Mit der Dresdner Bezirksverwaltung des MfS habe es keine guten Kontakte und unterschiedliche Sichten gegeben, erinnerte er sich.

Auf Grund der Vorentscheidungen und der verschiedenen Motive der Beteiligten sei eine „fatale“ Situation entstanden. Er habe sich seit dem 3. Oktober nur in Dresden aufgehalten und an keiner der damaligen Feierlichkeiten zum 40. DDR-Jubiläum in Ostberlin teilgenommen, so Modrow. Er habe vor Ort sein wollen, falls sich die Lage wie befürchtet zuspitze.

Die Entscheidungen, ob und wie die DDR-Sicherheitskräfte in Dresden eingesetzt würden, sei immer vor Ort getroffen worden. Er habe am 4. Oktober mit dem damaligen DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler telefoniert, so Modrow. Die Volkspolizei habe keine Reserven gehabt, um den Einsatz am Hauptbahnhof abzusichern. Keßler habe entschieden, dass Einheiten der Militärakademie der Nationalen Volksarmee (NVA) in Dresden helfen sollten, die Situation unter Kontrolle zu halten. Modrow selbst war damals Vorsitzender der „Bezirkseinsatzleitung“ (BEL), einem Gremium, das im Ernstfall, aber auch in Notfällen und Krisensituationen zum Einsatz kam.

Die NVA-Soldaten, allesamt Offiziere, hätten am 4. Oktober auch Waffen getragen, aber keine scharfe Munition. Aus Sicht von Modrow muss das Geschehen in Dresden aber von den Einsätzen der Sicherheitskräfte bei den Demonstrationen wie am 9. Oktober 1989 in Leipzig unterschieden werden.

Dialog ermöglicht statt Gewalt befohlen


Bei den Demonstrationen am 8. Oktober in Dresden sei nur die Volkspolizei eingesetzt worden. Damals bildeten Demonstranten in einer angespannten Situation die „Gruppe der 20“, der es gelang, weitere Gewalt zu verhindern und dass die Behörden der Stadt zu Gesprächen bereit waren. Modrow sorgte damals aktiv mit dafür, dass der Dialog zustande kam.

Am Folgetag sei in Leipzig ebenfalls kein Einsatz des Militärs geplant gewesen, widersprach Modrow heutigen Legenden. Damals hatte der dortige SED-Bezirkssekretär Roland Wötzel gemeinsam mit anderen, darunter Gewandhaus-Kapellmeister Kurt Masur, mit einem Aufruf zur Gewaltlosigkeit erreicht, dass die Montagsdemonstration in der Messestadt erstmals ohne Gewalt von Seiten der Sicherheitskräfte ablaufen konnte.

Am 12. Oktober 1989 sei Egon Krenz nach Leipzig geflogen, begleitet vom MfS-General Gerhard Neiber, Vizeinnenminister General Karl-Heinz Wagner und NVA-General Fritz Streletz sowie ZK-Abteilungsleiter Wolfgang Herger, erinnerte sich Modrow. Nach ihrer Beratung vor Ort hätten sie Honecker als Vorsitzendem des Nationalen Verteidigungsrates der DDR einen vorbereiteten Befehl vorgelegt. Dort sei eindeutig festgelegt worden, dass keine Waffen gegen Demonstrationen eingesetzt würden.

Honecker habe im Gespräch mit den Funktionären und Generälen noch vorgeschlagen, Panzer als symbolische Drohung durch Leipzig rollen zu lassen. Aus den Erinnerungen des Generals Streletz sei bekannt, dass dieser als Sekretär des Verteidigungsrates den SED-Chef überzeugt habe, dass Panzer die Straßen in Leipzig zerstören würden. „Das überzeugte Honecker“, berichtete Modrow, weil er nicht noch mehr Unruhe in der Messestadt gewollt habe. Daraufhin habe dieser den ersten Befehl, keine Waffen einzusetzen, unterschrieben.

Im zweiten Teil geht es um die Frage, ob die DDR 1989 wirtschaftlich am Ende war sowie welche Rolle der Kalte Krieg und die Sowjetunion damals spielten.

Lektüretipp:
Oliver Dürkop, Michael Gehler: „In Verantwortung: Hans Modrow und der deutsche Umbruch 1989/90“
Studien Verlag Innsbruck/Bozen/Wien 2018. 584 Seiten; ISBN: 978-3-7065-5699-6. 49,90 Euro

zuerst veröffentlicht am 31.5.2019 auf sputniknews.com

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