Was sich
im November 1918 in Deutschland ereignet hat, samt Abdankung
des Kaisers und mehrfacher Ausrufung der Republik, gilt allgemein als
Revolution. Ob es sich um eine solche gehandelt hat, hat bereits vor
Jahren der renommierte Historiker Fritz Fischer angezweifelt. Er hat
zudem auf Kontinuitäten in Deutschland trotz 1918 aufmerksam
gemacht.
„Die Vorgänge
im November 1918 in Deutschland verdienen gar nicht die Bezeichnung
‚Revolution‘.“ Das erklärte der Historiker Fritz Fischer in
den 1990er Jahren in einem Video-Interview, das im „Zeitzeugenportal“
online nachgesehen werden kann. Er begründete das so: „Es hat
sich im Grunde ein friedlicher Übergang aus der monarchischen
Ordnung, die sich diskreditiert hatte als der Kaiser außer Landes
gegangen war, zur republikanischen Ordnung vollzogen. Und dies noch
in einer gemäßigten Form.“
Die Kommunisten
bzw. ihre Vorgänger in der linken Sozialdemokratie hätten die Macht
gar nicht an sich reißen können, schon weil sie zu wenige gewesen
seien. Einschließlich Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht seien sie
„niemals in der Lage gewesen, einen neuen Staat zu schaffen“, so
Fischer.
Der 1908 Geborene
(1999 verstorben) hatte als Schüler die Ereignisse vor 100 Jahren in
Berlin miterlebt. In dem Video-Interview gibt er die damalige
Stimmung in der deutschen Bevölkerung wieder. Der MSPD-Vorstizende
Ebert hätte gern an der Monarchie festgehalten, „weil er wußte,
dass die Mehrzahl der deutschen Bürger in ihrem Herzen
monarchistisch waren“. Und: Kein deutscher Soldat oder Arbeiter
hätte Kaiser Wilhelm II, der in der Nacht zum 10. November 1918 nach
Holland floh, erschießen wollen.
Das Reich als
Republik
In seinem Vorwort
zum 1969 erschienenen Buch „November-Revolution 1918 – Die Rolle
der SPD“ von Wolfgang Malanowski meinte der Historiker, „kaum je
ein historisches Ereignis von derart bis in die Gegenwart reichender
Relevanz (oder überhaupt keines?) ist so ganz anders verlaufen als
handelnde Politiker es bewerteten, Miterlebende es überlieferten und
heute Lebende es noch vielfach verstehen oder ‚empfinden‘.“
Zu den
historischen Tatsachen zählt, dass General Erich Ludendorff, Erster
Generalquartiermeister und Stellvertreter Paul von Hindenburgs, des
Chefs der dritten Obersten Heeresleitung (OHL), im September 1918 mit
einer „Revolution von oben“ versuchte, nicht nur das deutsche
Militär vor dem Untergang zu bewahren.
Ludendorff musste
abtreten, während es Ebert, der die Revolution eigentlich hasste,
gelang, die anfangs unkontrollierten Ereignisse in die gewünschten
Bahnen zu lenken. So behielt die in der Folge 1919 entstandene
Weimarer Republik sogar die offizielle Bezeichnung „Deutsches
Reich“ bei, samt Reichwehr, Reichstag – und Reichspräsident
Ebert. Der Historiker Sebastian Haffner hat das in seinem 1969
veröffentlichten Buch „Die verratene Revolution“ beschrieben,
heute unter dem weniger deutlichen Titel „Die
deutsche Revolution 1918/19“ weiter erhältlich.
Russland im
Visier
Fischer machte in
seinem 1961 erstmals erschienenen und vieldiskutierten Buch „Griff
nach der Weltmacht – die Kriegszielpolitik des kaiserlichen
Deutschland 1914/18“ auf etwas wenig Beachtetes
aufmerksam: Bereits im Sommer 1918 überlegten führende deutsche
Kreise bis in die Industrie, den Krieg im Westen aufzugeben, um die
Eroberungen im Osten zu sichern – gegen das revolutionäre Russland
unter den Bolschewiki. Das war im Friedensvertrag von Brest-Litowsk
im März 1918 gezwungen worden, das zu akzeptieren.
Interessant –
und aktuell – klingt, wie die Pläne und Vorstellungen
propagandistisch begleitet wurden. So schrieb Oberst Hans von
Haeften, Leiter der Auslandsabteilung der OHL, in einer
entsprechenden Denkschrift:
„Das Ziel
unserer Ostpolitik ist nicht Vergewaltigung der Randstaaten, sondern
Sicherstellung ihrer staatlichen Freiheit und Ordnung.
Schutz der unterdrückten osteuropäischen Völker gegen die zerstörenden Kräfte des Bolschewismus, Sicherstellung der großen moralischen und wirtschaftlichen Werte, die im Osten Europas z. T. zerstört worden sind, z. T. völlig brach liegen. Deutschlands Recht und Pflicht als Nachbar, hier im Namen Europas Ordnung und Freiheit zu schaffen.“
Schutz der unterdrückten osteuropäischen Völker gegen die zerstörenden Kräfte des Bolschewismus, Sicherstellung der großen moralischen und wirtschaftlichen Werte, die im Osten Europas z. T. zerstört worden sind, z. T. völlig brach liegen. Deutschlands Recht und Pflicht als Nachbar, hier im Namen Europas Ordnung und Freiheit zu schaffen.“
Ludendorff war
mit seinen Ideen für seinen Vorstoß für einen Waffenstillstand am
29. September 1918 nicht allein. Laut Fischer traf sich bereits einen
Monat vorher der Großindustrielle Hugo Stinnes mit dem
deutsch-jüdischen Reeder Albert Ballin (HAPAG-Reederei). Beide
hätten beschlossen, dem Kaiser zu einem sofortigen Kanzlerwechsel
und baldigen Friedensschluss zu überreden, um aus der Konkursmasse
der Niederlage im Westen wenigstens die Ordnung im Osten zu sichern.
„Revolution
von oben“
Zu den
Vorschlägen gehörte laut Fischer Folgendes: die „Demokratisierung
des Reiches“ noch vor Aufnahme der Friedensverhandlungen mit dem
Westen unter dem Namen der „Modernisierung“ sowie die
„Frontbildung gegen den Bolschewismus“.
Ballin habe
Letzteres als „gemeineuropäisches Interesse der Wirtschafts- und
Finanzkreise an der Sicherung der Milliardeninvestitionen und den
unermeßlichen Bodenschätzen Rußlands gegenüber der Zerstörung
durch die bolschewistische Revolution“ definiert. Als Hindenburg
dann mit Ludendorff gemeinsam die Forderung nach einem sofortigen
Waffenstillstand im Westen am 29. September 1918 dem Kaiser
überbrachte, sagten sie laut Fischer, Wilhelm II. solle dabei nicht
an ein „Aufgeben des Ostens“ denken.
Der Historiker
schrieb in seinem Buch, mit dem er den ersten Historikerstreit in der
BRD auslöste: „Der Sieg der parlamentarischen und demokratischen
Institutionen im kaiserlichen Deutschland war jedoch nicht die Folge
eines revolutionären Ereignisses von unten, aus dem die westlichen
Demokratien ihre innere Stärke bezogen, sondern die Frucht einer
bewußt geplanten ‚Revolution von oben‘, um der ‚Revolution von
unten‘ Wind aus den Segeln zu nehmen und gleichzeitig gegenüber
den Siegermächten in eine möglichst günstige Verhandlungsposition
zu kommen.“
Kaisersturz
für Frieden im Westen
Fischer stellte
außerdem fest, dass am 9. November 1918 die Monarchie als Staatsform
„mehr zufällig denn durch einen entscheidenden Willensakt fiel“.
Der Sieg über die befürchtete „rote“ Revolution in Deutschland
mit Hilfe der Mehrheitssozialdemokratie sollte nach seinen
Erkenntnissen bei den Westmächten mildernde Friedensbedingungen für
die junge deutsche Republik als „Vorkämpferin gegen den
Bolschewismus“ erreichen.
„Tatsächlich
erlaubten die Alliierten, gerade wegen der stabilisierenden Funktion
der Regierung Ebert-Noske im Herzen Europas, mit ihren
Waffenstillstandsbedingungen Deutschland, seine Truppen im Osten
gegen die rote Revolution weiterhin stehen zu lassen, bis sie von
alliierten Streitkräften abgelöst würden.“
Bei vielen
Deutschen habe das die Illusion genährt, die deutsche Machtposition
im Osten könne gehalten werden. Umso härter sei die Enttäuschung
über die tatsächlichen Bedingungen des Friedensvertrages von
Versailles im Frühjahr 1919 gewesen. Das habe eine „unheimliche
nationale Erregung“ hervorgerufen, so Fischer.
Soziale
Reformen statt Revolution
Er sah unter
anderem die Rolle der Matrosen im Herbst 1918 kritisch, die nach
herkömmlicher Meinung am 4. November 1918 die Revolution auslösten.
Die hätten gar nicht revoltiert, schrieb er in dem Vorwort zum
Malanowski-Buch von 1969, „sondern sich nur gegen einen
überspannten Militarismus“ aufgelehnt, „den sie bis dahin
bewundert oder doch ohne großes Murren ertragen hatten“. Fischer
spitzte bereits damals zu, es sei „überhaupt keine Revolution“
gewesen.
„Im Oktober
1918 ging es – auf Geheiß des Monarchen – um weiter nichts als
um eine bloße Verfassungsreform in Richtung auf die konstitutionelle
Monarchie britischer Prägung, und nicht mehr wollten auch die
Parteien nicht, einschließlich der Sozialdemokratie. Im November
verschwand dann die Monarchie, was damals sogar führenden
Sozialdemokraten zu weit ging, und was schließlich als
‚revolutionäre Errungenschaften‘ galt, war weiter nichts als
soziale Reformen, wie Achtstundentag und Aufhebung der
Gesindeordnung.“
Ab Januar 1919
seien dann – auch dank der SPD-Führung – die „schon im
Kaiserreich starken Schichten“ wieder erstarkt und sei die deutsche
Arbeiterbewegung endgültig gespalten worden, so der Historiker. Er
widersprach vor 50 Jahren der jahrzehntelangen Legende, nach der
„wilde Proletarierhaufen im November 1918 die Macht“ übernahmen.
„In
Wirklichkeit blieb die Macht in den Händen der etablierten
Bürger-Bürokratie. Den guten Bürgern (und die sind in Deutschland
ja zumeist auch rechte Bürger), war das bißchen verordneter
Revolution und die sicherlich zum Teil erschreckende ‚revolutionäre
Gymnastik‘ linksradikaler Arbeiter schon zuviel. Sie stempelten die
führenden Sozialdemokraten, die ihnen das politische Überleben von
Stund an mit garantierten, zu November-Verbrechern.“
Ähnlich ist das
bei Haffner zu lesen, der Fischers deutliche Kritik an der damaligen
sozialdemokratischen Führung teilt, die die Revolution nicht wollte,
aber den alten Staat stützte. Letzterer schrieb, die SPD habe selbst
noch im November 1918 dem Volk verschleiert, dass die Militärs die
Kapitulation gewollt hatten, und damit der Dolchstoß-Legende
Vorschub geleistet.
Kontinuität
der Machtstrukturen
Im Vorwort zum
Malanowski-Buch stellte er die Frage: „Hätte mehr Revolution –
etwa die Entmachtung der Militärs, der Großindustriellen, der
kaiserlichen Bürokraten, der Großagrarier – der Republik mehr
Demokratie gebracht, und wäre mehr Revolution, etwa mit dem
Instrument der Arbeiter- und Soldatenräte überhaupt möglich
gewesen?“
Fischer gestand
ein, dass das kaum zu beantworten ist. „Aber fest steht, daß
gerade Militärs und Großindustrielle. Kaiserliche Bürokraten und
Großgrundbesitzer das antidemokratische Pogrom schürten, daß die
Republik womöglich ebenso gefährdete wie später das Millionenheer
der Arbeitslosen.“ Er wolle keinen vereinfachten Zusammenhängen
das Wort reden, schrieb er. Aber die von den Sozialdemokraten 1918
„sichergestellte Ordnung der ersten Stunde“ sei die Ordnung der
Weimarer Republik gewesen.
Auf dem
bundesdeutschen Historikertag 1978 erklärte Fischer: „Der
militärische Zusammenbruch und die revolutionären Wirren schufen
nur oberflächliche Zäsuren, denn der Erste Weltkrieg hatte
qualitativ nichts an der Zusammensetzung von Gesellschaft und
Wirtschaft verändert. Es dominierte noch immer das Prinzip der
Kontinuität des Bestehenden.“
Die damalige Rede
des Historikers wurde unter dem Titel „Bündnis der Eliten – Zur
Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871 – 1845“ als
Buch veröffentlicht. Später stellte er in einem Aufsatz zu diesen
Kontinuitäten fest: „Hitler
war kein Betriebsunfall“.
1945 Korrektur
von 1918 – nur im Osten
Revolutionäre gesellschaftspolitische Veränderungen in Deutschland
gab es erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – und nur in
einem Teil des Landes, von außen unterstützt und durchgesetzt. So
bezeichnete der Historiker Rolf Steininger in Band 1 seiner
vierbändigen „Deutschen
Geschichte seit 1945“ die „radikalen Veränderungen der
gesellschaftlichen Verhältnisse in der Ostzone“, in der
sowjetischen Besatzungszone (SBZ), beginnend mit der Bodenreform 1945
und Enteignungen in der Großindustrie.
Aus der SBZ
entstand die Deutsche Demokratische Republik (DDR), die sich auch auf
die gescheiterten Revolutionäre vom November 1918 berief. Einer von
ihnen, Wilhelm Pieck, war von 1949 bis 1960 der erste und einzige
Präsident dieses Landes.
Diese
tatsächliche grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen
Strukturen ist das, was der mit der Maueröffnung am 9. November 1989
dem Untergang geweihten DDR und ihren Gründern bis heute übel
genommen wird – und was ihr bis heute jene als „Verbrechen“
ankreiden, die trotz 1918 und 1945 die von Fischer beschriebenen
kontinuierlichen Machtstrukturen in Deutschland beherrschen.
Der Beitrag erschien zuerst bei sputniknews.com und wurde mit freundlicher Genehmigung des Autors übernommen. Dort sind auch weitere Beiträge von ihm zur Novemberrevolution 1918 zu finden.
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