Vierter und letzter Teil von Auszügen aus dem 6. Kapitel des 2002 erschienenen Buches "Moskau, 11. März 1985 – Die Auflösung des sowjetischen Imperiums" der Politikwissenschaftlerin Mária Huber (Seite 259 bis 290)
"Zu Gorbatschows Verdiensten, die schon im Sommer 1991 nicht mehr
zählen sollten, gehörte auch seine Bereitschaft zur Kooperation in der
Golfkrise. Als Bush im August-September 1990 die Zustimmung des
sowjetischen Präsidenten zu einer militärischen Strafaktion gegen Saddam
Hussein gewinnen wollte, lockte Washington mit ökonomischen Anreizen.
Auf dem Gipfel in Helsinki am 9. September 1990 versprach Bush, ‚so
entgegenkommend wie möglich‘ zu sein. Doch während Gorbatschow auf große
Summen – wie nach seiner Zustimmung zur deutschen Einheit und zum Abzug
der Roten Armee aus Ostdeutschland – hoffte, beschränkte sich die
amerikanische ‚Belohnung‘ auf die Bereitschaft zum Ausbau der
Handelsbeziehungen. Dabei blieb der UdSSR sogar die
Meistbegünstigungsklausel weiter versagt.
Folglich blieb Gorbatschow gar nichts anderes übrig, als zu
versuchen, Geld dort zu holen, wo Dankbarkeit etwas galt. Im Frühjahr
1991 bat er den deutschen Bundeskanzler mehrmals um weitere
Finanzhilfen. Helmut Kohl war durchaus bereit, zur Stabilisierung der
Sowjetunion einen Beitrag zu leisten, da dieser auch im Interesse der
deutschen Wirtschaft lag. Doch als er im April ein Schreibend es
sowjetischen Präsidenten erhielt, in dem dieser um 30 Milliarden DM in
Form von bilateraler Hilfe und deutscher Beteiligung an multilateralen
Unterstützungsaktionen bat, war die Grenze der Belastbarkeit erreicht. …
Im Jahre 1991 brauchte die Sowjetunion rund 18 Milliarden US-Dollar, um
ihre Altschulden bedienen und wichtige Einfuhren bezahlen zu können.
Kohl bemühte sich um eine internationale Lastenteilung. Schließlich, so
heiß es in Bonn, profitierten auch andere Staaten von der sowjetischen
Außenpolitik.
Für Gorbatschow wurde damit der G 7-Gipfel in London am 17. Juli
1991 zur Endstation Hoffnung. Seit Mai konfrontierte er fast alle
ausländischen Gesprächspartner mit der Frage, warum der Westen für den
Golfkrieg fast 100 Milliarden US-Dollar aufbringen könne, bei der
Unterstützung seiner Reformpolitik hingegen so geizig sei. Polen und
Ägypten erließ die internationale Gemeinschaft großzügig Schulden. …
Bush bekannte im engsten Beraterkreis, er könne Gorbatschows ständiges
Drängen auf Wirtschaftshilfe nicht mehr hören: ‚The guy doesn’t seem to
get it.‘ Am Vorabend des Londoner G 7-Gipfels schrieb der verzweifelte
‚Kerl‘ sogar einen Brief an die sieben westlichen Staatsmänner. …
Gorbatschows Brief wurde der Presse zugespielt – und die Antwort
der G 7 im ‚Wall Street Journal‘ am 17. Juli 1991 vorweggenommen: ‚Just
Say No.‘ Wenn der Westen dem Kreml keine Hilfe gewähre, wußte der junge
Chefökonom der ukrainischen Nationalbewegung Ruch, würden Gorbatschow
und seine Genossen Ende des Jahres kaum noch an der Macht sein.
Oleksander Savchenko, dessen Beitrag im neoliberalen Weltblatt
amerikanischer Wirtschaftskreise auf einem Vortrag basierte, den er kurz
zuvor im rechtskonservativen Cato Institute in Washington gehalten
hatte, plädierte im Namen der Freiheit gegen einen Marschall-Plan der G 7
für die Sowjetunion … Der Jungliberale aus Kiew machte sich die
amerikanischen Vorbehalte gegen Gorbatschows Stabilisierungs- und
Reformpläne geschickt zunutze. Denn trotz aller Konkurrenz zwischen den
amerikanischen außenpolitischen Akteuren herrschte in Washington Konsens
darüber, Hilfe zwar nicht schroff zu verweigern, aber auf ‚Beratung‘ zu
reduzieren und von der Annäherung an das amerikanische
Marktwirtschaftsmodell abhängig zu machen.
Als das kommunistische System zusammenbrach, wußte niemand, wie
die hochgradig politisierte und weitgehend entmonetarisierte Wirtschaft
der Sowjetunion auf ökonomische Steuerungsmechanismen umgeschaltet
werden konnte. Von Gorbatschow ‚ein schlüssiges Konzept‘ zu erwarten,
war daher heuchlerisch, aber politisch opportun. Die USA, Japan,
Großbritannien und Kanada standen finanziellen Hilfen für Moskau
grundsätzlich skeptisch gegenüber. Die Argumente des Weißen Hauses
änderten sich auch nach der Auflösung des Rates für Gegenseitige
Wirtschaftshilfe (Anfang Januar 1991) und der
Warschauer-Pakt-Organisation nicht. Das Mißtrauen gegenüber ‚den
Sowjets‘ blieb ungebrochen. … Die Hauptsorge der Gipfelteilnehmer galt …
der Wachstumsschwäche der westlichen Industrieländer. Abhilfe
versprachen sie sich von einer weiteren Liberalisierung des Welthandels.
Auf der Londoner Gipfel-Show ging es also darum, Zugänge zu einem
potentiell riesigen Markt zu erschließen. Doch Gorbatschows Angebote an
westliche Investoren, sich zusammen mit sowjetischen Unternehmen an
Energieprojekten und an der Konversion von Rüstungsbetrieben zu
beteiligen, erfüllten die hochgeschraubten Erwartungen nicht. Weltfremd
klang sein Appell an die G 7, die sozialen Kosten der Umstellung auf die
Marktwirtschaft und der Integration der UdSSR in die Weltwirtschaft mit
westlicher Hilfe gering zu halten. Sein Beharren … hätte außer in Bonn
allenfalls noch in Paris und Rom Verständnis finden können. Die
schriftliche Antwort von George Bush kam jedoch, noch bevor Gorbatschow
den Staats- und Regierungschefs der G 7 seine Politik persönlich
erläutern konnte: ‚Wenn Sie überzeugt sind, daß die Marktwirtschaft die
Lösung Ihrer Probleme bedeutet, dann werden wir Ihnen bei dem Aufbau
eines marktwirtschaftlichen Systems in der Sowjetunion helfen. Wenn Sie
jedoch immer noch den Eindruck haben, daß ein rascher Übergang zur
Marktwirtschaft zu riskant ist und es aus diesem Grunde notwendig
erscheint, für eine bestimmte Zeit die administrative Kontrolle weiter
aufrechtzuerhalten, dann wird es uns schwerfallen, Ihnen Hilfe zukommen
zu lassen.‘ Auf das Attribut ‚sozial‘ ging Bush erst gar nicht ein. …
Das Treffen der Großen Sieben endete … mit dem Vorschlag, der
Sowjetunion einen besonderen, assoziierten Status im IWF und in der
Weltbank zu verleihen. Mit dieser organisatorischen Innovation konnte
die US-Regierung alle aus einer Vollmitgliedschaft der Sowjetunion
resultierenden Ansprüche auf Beistandsleistungen abwehren. Für die
angebotene Beratungs- und Expertenhilfe mußte die kranke Supermacht
allerdings ihre Wirtschaftsdaten offenlegen.
Das magere Resultat stand von vornherein fest. …
‚Bitte geben Sie der Freiheit eine Chance‘, appellierte Savchenko
im Namen der ukrainischen Nationalisten an die zivilisierte Welt. Sie
dürfe den Unterdrückern nicht zu Hilfe kommen. Der Leitartikler des
‚Wall Street Journal‘ sekundierte mit der Forderung, der Westen solle
auf Gorbatschows Brief mit Höflichkeit, aber nicht mit Hilfe reagieren:
‚Der Westen muß nichts weiter tun, als die Naturkräfte zu unterstützen,
die in Richtung weiterer Desintegration der Macht weisen.‘ Allerdings
hatte die ‚rapide Desintegration der Sowjetunion‘, so Allison und
Blackwill, für die USA ‚keine überragende Priorität‘. Das Autoren-Duo …
argumentierte: Die amerikanischen Sicherheitsinteressen dürften durch
eine ‚unkontrollierte Destabilisierung und Desintegration der Region‘
nicht aufs Spiel gesetzt werden. Ihr Vorschlag, in den Sowjetrepubliken
wie im Zentrum für die Führungskräfte Anreize zu schaffen, um ‚einen Weg
einzuschlagen, der im Einklang mit unseren gemeinsamen Interessen
steht‘, deutete an, wie die Strategie der ‚kontrollierten‘
Destabilisierung und Desintegration aussah.
Die Autoren schwiegen sich allerdings über Art und Umfang der
‚Anreize‘ aus, und sie ließen auch offen, ob die amerikanischen
Geheimdienste dazu beitragen sollten. Robert Gates von der CIA saß seit
1989 im National Security Council, in dem bis September 1990 auch Robert
Blackwill als UdSSR-Experte gearbeitet hatte. Das akademische Netzwerk
der CIA konnte Interessenten aus dem Osten unauffällig mit Einladungen,
Stipendien (für Kinder und Enkelkinder) und Aufträgen versorgen. Vom
Netzwerk der Universitäten und Stiftungen war es nur ein Schritt zu den
‚Naturkräften‘, für die das Wirtschaftsblatt ‚Wall Street Journal‘ warb.
Die ‚Naturkräfte‘, die am Werk waren, hatten verschiedene
Gesichter. Zu ihnen gehörte die kapitalistische Koalition unter den
sowjetischen Reformern, Ölmultis, Nichtregierungsorganisationen und
Privatpersonen aus dem Westen. Sie bildeten keine verschworene
Gemeinschaft … sie schafften massive Anreize für die Demontage des
zentralisierten Produktions- und Finanzsystems, indem sie nicht zuletzt
den Opportunismus von Sowjetfunktionären instrumentalisierten.
… Steven L. Solnick zeigt in seiner überzeugenden Untersuchung,
wie das Streben nach privatem Vorteil die Grundlagen gesellschaftlicher
wie staatlicher Institutionen untergrub. Nach seinem Urteil spielte beim
Einsturz des Sowjetsystems weder das Fiasko der Führung noch die
Revolution von unten eine entscheidende Rolle, sondern die
Funktionärsgarde. Diese habe zunächst die Ressourcen des Staates
gestohlen, dann den Staat selbst.
Wie jedoch das Gestohlene versilbern? Wie war es möglich, daß am
großen Diebstahl so viele Hände beteiligt waren? Unternehmertalente wie
Boris Beresowskij und Wladimir Gussinski – später als mächtige
Oligarchen in den Schlagzeilen – wußten die interne Kaufkraft für sich
abzuschöpfen, die Phase der ‚spontanen Privatisierung‘ auszunutzen und
sich schließlich nach Frankreich beziehungsweise Spanien abzusetzen. Die
Masse der Funktionärsgarde war jedoch weniger begabt oder objektiv
ungünstiger positioniert. Aus ihr rekrutierten sich die
‚Ansprechpartner‘ ausländischer Organisationen, Stiftungen,
Privatpersonen. Dieser Teil der neuen Ost-West-Kooperation blieb
weitgehend im verborgenen. Außenstehende bekamen nur durch Zufall hier
und da die Spitze des Eisbergs zu sehen. …
Einen legalen Rahmen für den privaten Zugriff auf staatliches
Eigentum schufen die Gesetze über ‚joint ventures‘. Bei der Gründung von
Gemeinschaftsunternehmen wurde der sowjetische Anteil – Immobilien,
Ressourcen und lokales Know how – auf der Basis von Weltmarktpreisen
hochgerechnet. Diese Praxis machte die faktischen Besitzer, die
örtlichen Partie- und Wirtschaftsfunktionäre, mit einem Schlag
potentiell reich und wichtig. Gab es trotzdem Widerstände, so wurden sie
von westlicher Seite nicht selten durch ‚Geschenke‘ überwunden. … Die
meisten produzierten nichts und zielten darauf ab, Gesetzeslücken
gewinnbringend auszunutzen. …
Die ‚Naturkräfte‘ bewegten sich zwischen Deregulierung und
Diebstahl. Wo es reiche Erdölvorkommen gab, mußten die gemeinsamen
Interessen nicht erst mühsam abgesteckt werden. Der Energiehunger des
Westens und die Aussicht auf Petrodollars führten Vertreter der Ölmultis
und lokale Eliten schnell an den Verhandlungstisch. Den Weg bahnten in
vielen Fällen Randfiguren der Geschäftswelt. Diesen ‚Pionieren‘ fehlte
zwar das nötige Kapital für Investitionen, sie waren aber selbstbewußt
und entschlossen, endlich das große Geld zu machen. Von Repräsentanten
des Öl-Establishments wurden sie wenige Jahre später verächtlich
Hasardeure genannt – und ausgebootet. …
Nordöstlich vom Kaspischen Meer kämpfte … der US-Ölmulti Chevron
um einen 50prozentigen Anteil am kasachischen Ölfeld Tengis. Der Vertrag
sollte Anfang Juni 1990 anläßlich des Gipfeltreffens zwischen Bush und
Gorbatschow in Washington unterschrieben werden. Die Verhandlungen
gerieten jedoch ins Stocken. Da luden die Chevron-Chefs den Ersten
Sekretär der KP Kasachstans, Nursultan Nasarbajew in die USA ein und
verwöhnten ihn eine Woche lang in San Franzisco. Die Investition erwies
sich als zukunftsträchtig. …
Nachdem British Petroleum und Chevron die kaspischen Öl- und
Gasreserven auf Quantität und Gewinnpotential geprüft hatten,
konstatierten Großbritannien und die USA, daß es ihren nationalen
Interessen entspräche, wenn die Region sich mit ihrer Unterstützung zur
dritten Energiequelle des Weltmarktes entwickeln würde. Mit der Schwäche
der Sowjetunion war endlich jene neue Weltordnung in greifbare Nähe
gerückt, die bereits 1944 bei der Gründung der Bretton
Woods-Institutionen, IWF und Weltbank, ins Auge gefaßt worden war und
den ungehinderten Zugang zu Rohstoffen und Absatzmärkten garantieren
sollte. …
Genau fünfzig Jahre später, im September 1994, konnten nach
einigen Turbulenzen zehn westliche Ölfirmen und Gejdar Alijew, seit
einem Jahr Präsident Aserbaidschans, in Baku den sogenannten
Jahrhundertvertrag zur Erschließung von drei vielversprechenden
Offshore-Feldern unterzeichnen. … Der Anteil von US-Firmen am
profitablen Geschäft betrug zu jenem Zeitpunkt 44 Prozent. Den Iran
booteten die Amerikaner mit massivem Druck aus; die ursprünglich für ihn
reservierten fünf Prozent erhielt Exxon mit dem ehemaligen
US-Außenminister James Baker im Vorstand. Wie Multis und Mächtige in den
USA in dieser Sache Hand in Hand arbeiteten, brachte der Washingtoner
Berater von Amoco … zum Ausdruck: ‚Öl aus Aserbaidschan zu pumpen, das
ist eine direkte Chance, westliche Interessen in das Staatensystem der
früheren Sowjetunion auszudehnen.‘ Da Rußland genau dies zu verhindern
versucht hatte, forderte der Vorsitzende der Petroleum Finance Co.,
Robinson West, die Industrieländer und die internationalen Banken auf,
finanzielle Hebel gegen die ‚Hegemonie-Ansprüche Moskaus‘ einzusetzen.
Der Altkommunist Alijew gestattete amerikanischen Politikern und
westlichen Konzernchefs, in Baku auf Pressekonferenzen und vor seinem
Parlament, für den Vertrag zu werben. Nicht umsonst, versteht sich: Die
Vertragsprämie von mehreren hundert Millionen US-Dollar half dem von
Clan-Kämpfen und Korruptionsskandalen gebeutelten Präsidenten vermutlich
sogar dabei, Im Sattel zu bleiben. …
Die Offensive amerikanischer Energiepolitiker und Ölkonzerne
begann also, bevor der Zerfall der Sowjetunion offen zutage trat – und
endete erst recht nicht nach der Gründung der GUS. Im Frühjahr 1995
nannte Bill Clintons republikanischer Gegenspieler Robert Dole in seiner
ersten großen Rede zur Außenpolitik den Golfkrieg als ein Symbol für
die Sorge der Amerikaner um die Sicherung der Öl- und Gasreserven: ‚Die
Grenzen dieser Sorge rücken mehr nach Norden, schließen den Kaukasus,
Sibirien und Kasachstan ein.‘ Amerikas militärische Präsenz und
Diplomatie hätten sich dem anzupassen. Der russische Einfluß in der
Region solle begrenzt werden.
Am Ende des 20. Jahrhunderts triumphierte Zbigniew Brzezinski:
„Zum ersten Mal in der Geschichte trat ein außereurasischer Staat nicht
nur als der Schiedsrichter eurasischer Machtverhältnisse, sondern als
die überragende Weltmacht schlechthin hervor. Mit dem Scheitern und dem
Zusammenbruch der Sowjetunion stieg ein Land der westlichen Hemisphäre,
nämlich die Vereinigten Staaten, zur einzigen und im Grunde ersten
wirklichen Weltmacht auf. […] Inwieweit die USA ihre globale
Vormachtstellung geltend machen können, hängt aber davon ab, wie ein
weltweit engagiertes Amerika mit den komplexen Machtverhältnissen auf
dem eurasischen Kontinent fertig wird – und ob es dort das Aufkommen
einer dominierenden, gegnerischen Macht verhindern kann.‘"
→ Teil 3
Mária Huber: "Moskau, 11. März 1985 – Die Auflösung des sowjetischen Imperiums"
Deutscher Taschenbuch Verlag 2002 (Reihe "20 Tage im 20. Jahrhundert")
siehe auch das Telepolis-Interview mit Mária Huber vom 31.7.14 über die US-Einflussnahme in der Ukraine
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