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Mit deutsch- und volkstümelndem sowie rechtsextremem und faschistischem Gedankengut habe ich nichts am Hut und nichts zu tun!

Freitag, 24. Juni 2016

Gegen alten Hass und neuen Unverstand

Mitschrift der Rede von Prof. Dr. Erhard Eppler in Berlin am 22. Juni 2016 aus Anlass des 75. Jahrestages des faschistischen deutschen Überfalls auf die Sowjetunion

Der frühere SPD-Politiker und Bundesminister Erhard Eppler hielt am 22. Juni 2016 auf der Gedenkveranstaltung des Vereins Kontakte - контакты am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Tiergarten eine bewegende Rede, wie ich fand. Er hielt sie "als einer der Letzten der Flak-Helfer-Generation, als einer, der das letzte Jahr des Krieges als normaler Soldat überlebt hat" gegen "alten Hass und neuen Unverstand": "Ich möchte, dass dieser Jahrestag, an dem die Völker der Sowjetunion ihren großen opfervollen vaterländischen Krieg feiern und wir Deutschen an einen der dunkelsten Abschnitte unserer Geschichtte erinnert werden, zu einem politischen Willen führt: Die neue und völlig unzeitgemäße Spaltung unseres Kontinents zu verhindern!"
Es war eine Rede, die andeutete, wie eine historische Geste der Entschuldigung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Russland und den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion aussehen könnte, die ich bis heute vermisse. Das was Eppler sagte, das müsste von der Bundeskanzlerin Angela Merkel oder von Bundespräsident Joachim Gauck zu hören sein, die sich aber dem wie ihre Vorgänger weiter verweigern. Die Worte werden auch nicht dadurch geschmälert, dass Eppler historische Erkenntnisse vermissen ließ, als er früher dem Kriegseinsatz der Bundeswehr gegen Jugoslawien 1999 ebenso zustimmte wie dem Befehl an die Bundeswehr 2001, in den längsten Kriegseinsatz einer deutschen Armee nach Afghanistan zu ziehen.

Die Rede kann hier auf Youtube nachgehört werden. Ich habe sie nochmal aufgeschrieben:

"Als mich Professor Morsch einlud, hierherzukommen, hatte er sich überlegt, dass wir hier ein Zeichen setzen wollen. Und er hat auch darüber nachgedacht, dass vielleicht jemand, der heute die Politik bestimmt, hier stehen könnte, um dieses Zeichen zu setzen. Wenn ich in meinem 90. Lebensjahr hierhergekommen bin, dann einfach in der geringen Hoffnung, dass dies notiert wird.
Was ich heute sage, verantworte ich ganz allein. Ich rede für keine Partei, für keinen Verein, für keine Kirche. Ich rede als einer der Letzten der Flakhelfer-Generation, einer, der das letzte Jahr des letzten Krieges noch als normaler regulärer Soldat überlebt hat.

Die Mehrheit der Deutschen hat sich nach dem 2. Weltkrieg nicht darum gedrückt, die Verbrechen des NS-Regimes, und notfalls in ihrer ganzen Scheußlichkeit, zu schildern, damit sie sich nie wiederholen. Am besten ist uns dies gelungen, wo es um den Judenmord ging. Dass wir über den Feldzug, der heute vor 75 Jahren begann, sehr viel weniger wissen, hat einen ganz einfachen Grund, nämlich den Kalten Krieg. Auch im Kalten Krieg gab es Freund und Feind, und für uns in Westdeutschland war der neue Feind der alte. Und die Propaganda gegen den neuen Feind knüpfte manchmal da an, wo die gegen den alten aufgehört hatte. Es war einfach nicht opportun, zu berichten oder auch nur zu forschen über das, was zwischen 41 und 45 geschehen war. Und so blieb das Bild dieses Ostfeldzugs unscharf. Es blieb bei dem, was die Älteren noch wussten aus den Wehrmachtsberichten, aus Feldpostbriefen, oder aus dem, was die wenigen gesprächigen Soldaten erzählt hatten.

Sicher, die Zahl der sowjetischen Menschenopfer, die sich immer oberhalb der 20-Millionengrenze bewegte, blieb nicht geheim. Aber es blieb bei einer abstrakten Zahl. Wer kann sich schon 27 Millionen Tote vorstellen, im Kampf gefallen, nach dem Kampf erschossen, als Partisanen erhängt oder im Lager verhungert? Dass man in Russland anders Krieg geführt hatte als noch in Frankreich, wurde nie geleugnet. Aber das soll davon hergekommen sein, dass eben zwei harte Diktaturen zusammenprallten. Was wirklich in einem der blutigsten Kriege der Weltgeschichte vor sich ging, wozu deutsche Soldaten der Waffen-SS, aber eben auch des Heeres, fähig waren, ist nie voll ins Bewusstsein unserer Nation gedrungen.

Wir Deutschen wissen von Oradour in Frankreich, von Lidice in Tschechien, wo Dörfer mitsamt ihrer Bevölkerung ausgelöscht wurden. Aber wir wissen nicht, wie viele Hundert Oradours und Lidices es im Bereich der Sowjetunion gegeben hat. Allein in Weißrussland waren es über 200. Und zwar meist, nicht alle, auf dem Rückzug, als Teil der „verbrannten Erde“. Wer von uns weiß schon, dass es deutsche Generale gab, die offen aussprachen, dass man die nicht mehr arbeitsfähigen sowjetischen Gefangenen eben verhungern lassen müsse. Vielleicht haben wir alle erfahren, dass es deutsche Offiziere gab, die den „Kommissar-Befehl“ einfach nicht ausführten, und übrigens unbestraft blieben. Aber wir wissen nicht genau, in wieviel tausend Fällen Kommissare nach der Gefangennahme sofort exekutiert wurden. Ja, es gab einen Rest preußischer Korrektheit, manchmal sogar Ritterlichkeit, aber die Regel war es nicht.

Vor 75 Jahren war ich 14 Jahre alt. Meinen 17. Geburtstag habe ich in einer Flakstellung in Karlsruhe, meinen 18. an der Westfront in Holland erlebt. Dort war ich der Jüngste in einer Kompanie aus lauter Obergefreiten, die alle Ost-Erfahrung hatten. Was sie gelegentlich abends vor dem Einschlafen erzählten, treibt mich noch heute um. Ein Beispiel: Es war ein stämmiger Alemanne vom Hochrhein, der die „Goldfasanen“, wie er sagte, also die Nazis, hasste, und der seelenruhig erzählte, wie sie im Winter 41 auf 42 eine Gruppe russischer Infanteristen gefangen nahmen, die wunderbare warme Filzstiefel anhatten, während sie selbst immer eiskalte Füße hatten. Was, so der Obergefreite, was blieb den „Landsern“ anderes übrig, als „diese Kerle umzulegen“, um an ihre Stiefel zu kommen?

Wer solche und allzu ähnliche Geschichten mit sich herumträgt, kommt nie in die Versuchung, über Russen aus der Position moralischer Überlegenheit zu reden. Aber genau dies ist wieder Mode geworden. Dass Menschen, die keineswegs abartig böse waren, so handeln konnten, war nur möglich, weil die Führung der Wehrmacht ihre Soldaten hat wissen lassen, dass ein Russenleben eben nicht annähernd so wertvoll ist wie das eines Deutschen.

Daher erst ein paar Fakten, die das Besondere dieses Feldzugs erkennbar machen:
1. Was heute vor 75 Jahren begann, war zuerst einmal der Bruch eines Nichtangriffspaktes, der noch keine zwei Jahre alt war. Stalin wollte das ja lange gar nicht glauben, dass Hitler dies tut.
2. Die kriegsrechtswidrigen Befehle an die Wehrmacht, etwa der „Kommissar-Befehl“ oder der Befehl, dass Kriegsgerichte sich nicht mit Verfehlungen an der Zivilbevölkerung zu beschäftigen hätten, waren keine Reaktionen auf Handlungen der roten Armee. Sie wurden lange vor Beginn des Feldzugs, oft schon im März 1941, erlassen.
3. Da es zu Beginn kaum deutsche Kriegsgefangene gab, war das Sterbenlassen, das Verhungernlassen von drei Millionen russischer Kriegsgefangenen eine von niemandem provozierte Entscheidung allein der deutschen Führung.
4. Das Ziel des Überfalls war nicht nur das Ende des Stalinismus, sondern das Ende einer jeden selbständigen Staatlichkeit auf dem Gebiet der Sowjetunion. Slawen galten als nicht staatsfähig, sie sollten Sklavendienste leisten.
Und Fünftens: Der Überfall vor 75 Jahren war die erste militärische Operation der Geschichte, der eine Rassenlehre zugrunde lag. Danach gab es Völker, die zur Herrschaft, andere, die zur Sklaverei geboren waren. Und erst auf diesem Hintergrund verstehen wir, was die Russen und die vielen anderen früher sowjetischen Völker als den „Großen Vaterländischen Krieg“ feiern.

Man konnte die slawischen Völker nicht, wie etwa die Juden, einfach ausrotten, aber man konnte sie dezimieren. So war der Hungertod von mehr als drei Millionen Kriegsgefangenen nicht nur darauf zurückzuführen, dass die Wehrmacht in den ersten Monaten mit der Zahl der Gefangenen tatsächlich überfordert war. Er war die Folge von Entscheidungen, die diesen schauerlichen Hungertod als Mittel der Dezimierung rechtfertigten. Die kriminellen Ziele erzwangen schließlich auch die kriminellen Mittel.

Ich will an dieser Stelle nicht ausklammern, was Deutsche, vor allem Frauen, zu leiden hatten, als die Rote Armee das Land erreicht hatte, von dem der Schrecken ausging. Jedes menschliche Leiden hat seine eigene Würde und verlangt nach Mitleiden. Aber Friedrich Schiller hätte wohl dazu gesagt: „Das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend Böses muss gebären.“ Wir, die wir heute zusammengekommen sind, lehnen uns auf gegen dieses schauerliche Muss, indem wir die böse Tat benennen, sie als Teil unserer Geschichte annehmen, damit nicht sie nicht auch für unsere Kinder und Enkel und Urenkel Böses gebären muss.

Damit ist allerdings nicht gesagt, dass die deutschen Soldaten, die diesen Krieg führten, eine Horde von Kriminellen waren. Die meisten waren keine Rassisten. Sie taten, was sie für ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit hielten, und viele hielten sich auch an die Anstandsregeln, die sie zuhause gelernt hatten. Aber sie hatten oft nicht den Mut, rechtswidrige Befehle zu verweigern. So waren es meist die Offiziere, die Chefs der Kompanien oder Bataillone, die den Ausschlag gaben. Und später, nach Stalingrad, als die Rote Armee in die Offensive ging, fühlten deutsche Soldaten sich als Verteidiger ihres Landes, oft in dem Wissen, dass sie diesen Krieg gegen zwei Weltmächte nicht gewinnen konnten, dass ihr Widerstand sinnlos war.

Was das für den Einzelnen bedeutete, will ich am Beispiel meines älteren Bruders darstellen. Der 23-jährige Leutnant der Funker im Mittelabschnitt der Ostfront malte in einem Feldpostbrief vom 4. April 1944, also vom 4.4.44, alle Vierer im Datum so, dass sie wie Kreuze aussahen. Im Brief selbst war nicht von den Ahnungen die Rede, aber die vier Kreuze waren eindeutig. Er ahnte offenbar, was kommen würde. Und tatsächlich kam er zwei Monate später im Angriff der Roten Armee auf den Mittelabschnitt um. Und zwar so, dass ich bis heute nicht weiß, wo er verscharrt wurde. Er, der deutsche Offizier, der sich Arm in Arm mit zwei russischen Hilfswilligen fotografieren ließ und von dem ich nie ein böses Wort, oder auch verächtliches Wort über die Russen gehört habe, war wie viele andere Soldaten kein Krimineller, sondern Instrument und Opfer einer kriminellen Unternehmung.

Dankbar verwundert habe ich mir in den Siebziger Jahren sagen lassen, dass die Mehrheit der Russen, die den Sieg über die Invasoren feiern, den Deutschen vergeben haben, dass sie erleichtert waren, als Willy Brandt die Versöhnung einleitete. Wenn es stimmt, dass seit der Ukraine-Krise die Stimmung in den russischen Familien wieder umgeschlagen ist, muss uns das allen zu denken geben. Gelten wir jetzt vielleicht als undankbar? Gorbatschow hat uns die Einheit geschenkt, und zwar großzügiger als ich mir das vorher vorstellen konnte. Und was tun wir?

Hier ist nicht der Ort, an dem zu entscheiden ist, was der deutschen Außenpolitik möglich ist und was nicht. Aber der Ort, wo gesagt werden muss, was nicht mehr sein darf: Wer als Deutscher über Russland und seine Menschen redet, auch über seine Politiker, auch über seinen Präsidenten, muss im Gedächtnis haben, was heute vor 75 Jahren begonnen hat. Dann wird jede verletzende Arroganz, die wir in unseren Medien häufig finden, verfliegen und sich das Bedürfnis regen, wenigstens einen Bruchteil des Horrors wieder gutzumachen, den wir angerichtet haben.

Wir Deutsche haben Michail Gorbatschow zugejubelt, als er vom „gemeinsamen Haus Europa“ sprach. Aber wir haben doch gewusst, dass dieses Haus, wenn es ein Russe sagt, auch eine Wohnung für das Volk der Russen haben musste. Und heute können wir hinzuzufügen, auch noch eine für die Ukrainer.

Wir können heute allerdings keinem Nationalgefühl mehr trauen, das untrennbar mit dem Hass auf ein anderes Volk verbunden ist. Es mag ja sein, dass in Kiew nur der ein guter Ukrainer ist, der die Russen hasst. Ein guter Europäer ist für uns, der weiß, dass die Russen ein europäisches Volk sind. Der auch weiß, dass das jammervoll heruntergewirtschaftete Land der Ukraine nur eine Chance bekommt, wenn die Europäische Union und Russland dies gemeinsam wollen.

Liebe Freunde, es gibt inzwischen auch einen russischen Nationalismus. Er ist vor allem durch die Ukraine-Krise gewachsen. Es ist ein Nationalismus der Enttäuschten, der Verletzten, des Trotzes, ja der Gedemütigten – wie er in Deutschland in den der Zwanziger Jahren, in den ich geboren bin, aufkam. Deshalb kann ich ihn verstehen, muss ihn aber auch fürchten. Reichlich naiv finde ich die Stimmen im Westen, die uns belehren: Die Russen hätten doch gar keinen Anlass, kein Recht, sich gedemütigt zu fühlen. Noch nie hat ein großes Volk andere um die Erlaubnis gebeten, sich gedemütigt zu fühlen. Gerade das Nichtverstehen wird als zusätzliche Demütigung empfunden. Wir sollten uns eher fragen, was wir Deutschen dazu beigetragen haben und was wir tun können, diesem Nationalismus den Nährboden zu entziehen. Zu diesem Nährboden gehören auch die Sanktionen, denn sie trennen konkurrierende Nationen in Richter und Delinquenten. Das ist demütigend.

Damit kein Missverständnis aufkommt, lassen Sie mich konkret werden: Der russische Präsident Putin bedient sich vielleicht manchmal dieses Nationalismus, aber er ist viel zu rational, man könnte ja auch sagen: viel zu klug, um sich davon mitreißen zu lassen. Ich fürchte nicht ihn. Ich fürchte den seiner Nachfolger, der sich von einem Nationalismus der Gedemütigten tragen und bestimmen ließe. Er könnte wirklich so sein, wie viele im Westen heute Putin malen. Ich rede von diesem Nationalismus, weil wir ihn anheizen und weil wir ihm den Boden entziehen können, etwa dadurch, dass die Bundesrepublik des vereinigten Deutschland darauf besteht, dass das leidgeprüfte Volk der Russen ein europäisches Volk ist und dass ihm ein Platz in einem europäischen Haus zusteht.
Es ist ja gut so, dass die Bundesregierung und in ihr vor allem der Außenminister darauf achtet, dass der Gesprächsfaden mit Moskau nicht abreißt. Aber es kommt auch darauf an, worüber man mit der russischen Regierung reden will. Was läge da näher, heute, neben den Sanktionen, als der Versuch, ein neues Wettrüsten zwischen Ost und West zu verhindern? Ein Wettrüsten, das im 21. Jahrhundert mit politischem Weitblick nichts, mit Fixiertheit auf die Vergangenheit aber viel zu tun hat.

In der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts, also noch einige Jahrzehnte, werden die zivilisierten Völker Europas sich des islamistischen Terrors zu erwehren haben. Der „war on terrorism“, den der jüngere Bush vor 15 Jahren proklamierte, hat vor allem durch Fehlentscheidungen in Washington nur dazu geführt, dass es heute anders als 2001 einen islamistischen Terror-Staat gibt, der immer neue Ableger zu bilden versucht, mit und ohne Erfolg, sogar in Afrika. Auch Deutschland liegt im Visier dieses Terrors. Kurzum: Im Kampf gegen den Terror hat sich die westliche Welt nicht mit Ruhm bedeckt. Und sie kann Verbündete brauchen. Und Russland ist ein möglicher Verbündeter.

Manchmal erinnert mich dieses Wettrüsten, das da jetzt beginnt und über das sich jetzt auch unser Außenminister seine Gedanken macht, fast an einen schlechten Scherz. Und wenn wir mit Moskau reden wollen, dann lautet das wichtigste Thema: Wie lässt sich dieser vermeidbare Unsinn vermeiden? Ich sehe auf beiden Seiten kein Interesse an einem neuen, geschichtlich gänzlich obsoleten Krieg. Die NATO ist nicht so verrückt, Hitler kopieren zu wollen. Und Wladimir Putin hütet sich, die NATO direkt herauszufordern. Als der ukrainische frühere Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk fast täglich erklärte, sein Land befinde sich bereits im Kriegszustand mit Russland, hat Putin dies einfach überhört. Er hätte dies auch als Kriegserklärung werten und seine Divisionen marschieren lassen können. Dass Putin – und zwar nach der Sezession der Krim – diese annektiert und damit das Völkerrecht verletzt hat, ist doch kein Beweis dafür, dass er halb Europa erobern will. Immerhin liegt in Sewastopol die russische Schwarzmeerflotte. Und sollte der russische Präsident zitternd abwarten, ob eine leidenschaftlich antirussische Regierung in Kiew nicht doch noch Gründe finden würde, den Pachtvertrag zu kündigen? Michail Gorbatschows Aussage, er hätte in Sachen Krim genauso gehandelt als Putin, sollte uns zu denken geben.

Russen, ob sie Putin oder Gorbatschow heißen, fühlen sich nämlich in der Defensive. Wenn man sinnvoll miteinander reden will, dann darüber, wie sich ein Wettrüsten auf beiden Seiten verhindern lässt. Und wenn man dann bei der sehr praktischen Aufgabe der friedlichen Grenzsicherung vorankommt, dann kann man sich auch einmal darüber austauschen, wo und wie der Grundstein zum gemeinsamen europäischen Haus zu legen wäre.

Ich habe zu Beginn gesagt, ich rede hier für niemanden. Das stimmt beinahe, aber nicht ganz. Ich rede vor allem für meine sechs Urenkel, die jetzt vital und unendlich charmant herankrabbeln, und manchmal auch schon heranspringen. Ich möchte nicht, dass sie einst in einem Europa leben, das nur noch ein amerikanischer Brückenkopf in einem chinesisch-russischen Eurasien ist. Ich möchte nicht, dass alter Hass und neuer Unverstand Russland in eine Allianz treibt, die es gar nicht will und die Europa extrem verletzbar und abhängig machen müsste.

Ich möchte, dass dieser Jahrestag, an dem die Völker der Sowjetunion ihren großen opfervollen vaterländischen Krieg feiern und wir Deutschen an einen der dunkelsten Abschnitte unserer Geschichte erinnert werden, ich möchte, dass dies zu einem politischen Willen führt: Nämlich die neue und völlig unzeitgemäße Spaltung unseres Kontinents zu verhindern.
Der 22. Juni 1941 ist ein europäisches Datum. Wenn jemand die Pflicht und dann eben auch das Recht hat, daraus Schlüsse abzuleiten, dann sind es wir Deutschen. Einer davon muss lauten: Wir werden nicht einfach zusehen, wie die legitimen Teile Europas gegeneinander aufgerüstet werden. Und wir werden keine Ruhe geben, bis aus Gorbatschows Traum vom Europäischen Haus Wirklichkeit wird."

Die taz hat am 22.6.16 ein Interview mit Erhard Eppler über seine Erinnerungen a den Beginn des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion veröffentlicht.

Das politische Kulturmagazin Die Gazette hat in seiner kürzlich erschienenen Ausgabe 50 eine Analyse Erhard Epplers über "Die verkannte Demütigung der Russen" veröffentlicht. Das Heft ist im gut sortierten Zeitschriftenhandel zu bekommen.

Donnerstag, 23. Juni 2016

Gedenken und Mahnung - Impressionen vom 22. Juni 2016 in Berlin

Aus Anlass des 75. Jahrestages des faschistischen deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 gab es in Berlin einige Veranstaltungen zum Gedenken an dieses Ereignis. Ich war bei einigen dabei, nachdem ich am Vormittag persönlich auf meine Weise der Opfer des größten Verbrechens der Menschheitsgeschichte gedachte.

Zu den für mich bewegendsten Erlebnissen zählte die Rede von Prof. Dr. Ehrhard Eppler am 22. Juni 2016 auf der Gedenkveranstaltung des Vereins Kontakte - контакты am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Tiergarten. Er hielt sie "als einer der Letzten der Flak-Helfer-Generation, als einer, der das letzte Jahr des Krieges als normaler Soldat überlebt hat" gegen "alten Hass und neuen Unverstand": "Ich möchte, dass dieser Jahrestag, an dem die Völker der Sowjetunion ihren großen opfervollen vaterländischen Krieg feiern und wir Deutschen an einen der dunkelsten Abschnitte unserer Geschichtte erinnert werden, zu einem politischen Willen führt: Die neue und völlig unzeitgemäße Spaltung unseres Kontinents zu verhindern!" Die Rede kann hier auf Youtube nachgehört werden.

Hier fotografische Erinnerungen an diesen Tag:

Am Vormittag des 22. Juni 2016 am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow

Die Decke des Pavillons unter dem Ehrenmal

Im Pavillon hatten am Vormittag Vertreter verschiedener Orgamnisationen Blumen niedergelegt

Später kamen immer wieder Menschen zum Ehrenmal

Vertreter der Botschaften der ehemaligen Sowjetrepubliken gedachten der Opfer des Krieges mit Kränzen

Auch ein Kranz der Bundesregierung war dabei

US-amerikanische Studenten aus Kalifornien erfuhren am Ehrenmal von der Bedeutung des Tages


Blumen auch am Denkmal "Mutter Heimat" auf dem Gelände des Ehrenmals

Wolfgang Wieland vom Vorstand des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge bei der Gedenkveranstaltung mehrerer Institutionen im Deutschen Histroischen Museum: "Dieser Krieg war ein Verbrechen!"

Das Trio Scho begleitete die Gedenkveranstaltung

Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) forderte auf der Gedenkveranstaltung, Lehren aus der "dieser Gewaltgeschichte" zu ziehen und "unserer Verantwortung für die Zukunft gerecht zu werden"

 Die russische Studentin Viktoria Kutdusowa berichtete von ihren Erfahrungen als Freiwillige bei der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste und kritisierte die "Kriegsverherrlichung" in ihrem Heimatland

Am späten Nachmittag am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Tiergarten

Vertreter der früheren Sowjetrepubliken, hier Militärs aus Kasachstan, legten Kränze ab

Sowjetische Fahnen wehten wieder über Berlin

Am frühen Abend versammelten sich immer mehr Menschen am Ehrenmal

Sie legten Blumen nieder und gedachten der Opfer des faschistischen Überfalls

Militärs ehemaliger Sowjetrepubliken am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Tiergarten


Eine klare Forderung

Neben den Botschaftern der ehemaligen Sowjetrepubliken kam auch Gernot Erler (SPD) (ganz rechts), Russlandbeauftragter des Bundesregierung, zum offiziellen Gedenken ans Ehrenmal



Der russländische Botschafter Wladimir M. Grinin legte gemeinsam mit Sergei Malinovsky, Geschäftsträger der Botschaft von Belarus, und den anderen Diplomaten Blumen nieder

Der frühere Diplomat Dr. Hans Otto Bräutigam gedachte der Opfer und reichte Botschafter Grinin die Hand


Die Grünen-Politikerin Antje Vollmer sprach als Vertreterin des deutsch-Russischen Forums auf der Gedenkveranstaltung des Vereins Kontakte - контакты am Ehrenmal und vermisste politisches Gespür und Empathie in der deutschen Politik: "27 Millionen Tote hat dieser Krieg gekostet und wir diskutieren immer noch, wie wir richtig gedenken sollen!"

Zahlreiche Menschen waren zu der Gedenkveranstaltung am Ehrenmal auf der Straße des 17. Juni gekommen

Der russische Sänger Grigory Kofman sang Lieder von Wladimir Wyssozki

Der SPD-Politiker und frühere Bundesminister Erhard Eppler hielt eine bewegende Rede "als einer der Letzten der Flak-Helfer-Generation, als einer, der das letzte Jahr des Krieges als normaler Soldat überlebt hat" gegen "alten Hass und neuen Unverstand": "Ich möchte, dass dieser Jahrestag, an dem die Völker der Sowjetunion ihren großen opfervollen vaterländischen Krieg feiern und wir Deutschen an einen der dunkelsten Abschnitte unserer Geschichtte erinnert werden, zu einem politischen Willen führt: Die neue und völlig unzeitgemäße Spaltung unseres Kontinents zu verhindern!"

Der Hanns-Eisler-Chor sang unter anderem das Lied "Unsterbliche Opfer"

Am Abend berichteten im Haus der Demokratie und Menschrechte Sonja Moldt (Jg. 1929 - 2. von rechts)), Ulla Plener (Jg. 1933 - rechts) und Herbert Stein (Jg.1932 - links), wie sie als Kinder deutscher Kommunisten im Internationalen Kinderheim von Iwanowo (nordöstlich von Moskau) den 22. Juni 1941 und den Krieg erlebten (2. von links: Hans Coppi von der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten)




Dienstag, 21. Juni 2016

Was und wer fehlt

Gedanken zum 22. Juni 1941 und aktuellen Nachrichten mit ihrer Hetze gegen Russland

Am 22. Juni 2016 ist es 75 Jahre her, dass die faschistische deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfiel und einen Vernichtungskrieg begann, dem unter anderem geschätzte 27 Millionen Menschen in dem Land zum Opfer fielen. Sie mussten deutschen Größen- und Rassenwahn ebenso mit ihrem Leben bezahlen wie den Kampf gegen den „jüdischen Bolschewismus“ im Namen der vermeintlichen deutschen und europäischen Kultur.
Doch es werden immer weniger, die sich daran erinnern und wissen, was am 22. Juni 1941 begann. Die letzten Zeitzeugen beenden ihren Lebensweg, während ihre Erinnerungen kaum weitergegeben werden. Zugleich trägt die offizielle Geschichtspolitik der Bundesregierung nur wenig dazu bei, die Erinnerung an den Überfall vor 75 Jahren und den folgenden Vernichtungskrieg wach zu halten.

Politische Vernunft wird diffamiert


Es fehlt der Wille dazu, im notwendigen Maße an etwas zu erinnern, was im deutschen Namen geschah und zu den größten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit gehört. Darunter verstehe ich mehr als Ausstellungseröffnungen mit einer Kulturstaatsministerin oder museale Gedenkveranstaltungen mit einer Rede des Bundestagspräsidenten. Das hat nicht nur damit zu tun, dass gerade in diesen Tagen die NATO unter aktiver deutscher Beteiligung Manöver an der Grenze zu Russland abhält. Die werden mit der „russischen Aggressivität“ begründet und gleichzeitig wird vor russischen „Expansionsplänen“ gewarnt. Russland wird vorgeworfen, sein Militär an der Grenze zur Nato aufzustocken. Die Frage, seit wann und warum die Nato direkt an Russland grenzt, wird gar nicht mehr gestellt. Erinnert wird auch nicht mehr daran, dass vor 75 Jahren das faschistische Deutschland die Sowjetunion überfiel und das mit einem angeblich geplanten sowjetischen Überfall auf Deutschland begründete. Diese faschistische Legende hält sich bis heute, auch wenn sie von Historikern längst wiederlegt ist. Dafür erklärt der auch von der Bundeswehr ausgebildete estnische General Riho Terras mal eben: „Für Länder mit einer Grenze zu Russland gibt es keine Sicherheit."
Was fehlt, ist politische Vernunft, die dazu beiträgt, Konfrontation abzubauen. Und wenn sie aufscheint, wird sie politisch und medial niedergebrüllt, plattgemacht, diffamiert. Das erging dieser Tage selbst Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier so, als er gegenüber der Bild am Sonntag (Ausgabe vom 19.6.16) „lautes Säbelrasseln und Kriegsgeheul“ und die „symbolischen Panzerparaden“ der NATO an der Grenze zu Russland kritisierte. Seine Forderung nach mehr Dialog und Kooperation mit Russland beantworteten Journalistendarsteller wie Malte Lehming vom Tagesspiegel scheinironisch mit „Drushba!“ (in der gedruckten Ausgabe) und der Forderung, gegenüber Putin hart zu bleiben, und Richard Herzinger vom Springer-Blatt Die Welt mit dem Vorwurf, Steinmeier verhalte sich „im Sog des Putinismus“ (so die gedruckte Überschrift) "beispiellos" illoyal gegenüber der Nato und der westlichen Strategie. Und das auch noch, „während die Nato mit Manövern in Polen und im Baltikum ihre Abwehrkräfte gegen einen möglichen russischen Angriff auf osteuropäische Bündnisstaaten erprobte“, empörte sich Hetzschreiber Herzinger. Dabei hatte Steinmeier ausdrücklich nichts gegen die neue Abschreckungspolitik gen Osten und die osteuropäischen Überfallängste gesagt, sondern an die geschichtliche Lehre erinnert, „dass es neben dem gemeinsamen Willen zur Verteidigungsbereitschaft immer auch die Bereitschaft zum Dialog und Kooperationsangebote geben müsse“. Nichts anderes will ja angeblich auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der der Süddeutschen Zeitung sagte: „Starke Verteidigung, starke Abschreckung und die Geschlossenheit der Nato sind der beste Weg, um einen Konflikt zu verhindern. Zugleich setzen wir auf politischen Dialog mit Russland. Das ist umso wichtiger, wenn die Spannungen groß sind. Denn wenn wir uns anschweigen, lösen wir keine Probleme.“
Ob also nun Steinmeier tatsächlich illoyal gegenüber der Nato war, um sich gar von der Bundeskanzlerin Angela Merkel abzusetzen, wie Hetzschreiber Herzinger meint, während andere glauben, des Außenministers Worte seien mit Merkel abgestimmt, darüber mögen andere streiten. Ich halte es bis zur Klärung durch Steinmeier selbst mit dem linken Bundestagsabgeordneten Wolfgang Gehrcke, der am 20. Juni erklärte: „… die Botschaft hör‘ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube, dass die Bundesregierung den Kurs auf Dialog auch durchhält und durchsetzt.“ Der Politiker stellte klar: „Deutschland muss sich wie die anderen EU-Mitgliedsstaaten auch entscheiden, ob die Sanktionen gegen Russland verlängert werden, oder ob ein Einstieg in den Ausstieg die Konfrontationspolitik ersetzen soll.“ Lassen wir uns also überraschen, was in Kürze geschieht, nach dem schon die EU-Sanktionen gegen Russland wegen der Aufnahme der Krim kürzlich verlängert wurden. Doch kaum habe ich das geschrieben, wurde das gemeldet: „Die EU-Staaten haben eine vorläufige Einigung über die Verlängerung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland um sechs Monate erzielt. Die Botschafter der 28 Mitgliedsländer verständigten sich am Dienstag laut Diplomaten darauf, die Strafmaßnahmen mindestens bis Ende Januar 2017 aufrechtzuerhalten.“ Sicher haben Merkel und Steinmeier den deutschen Botschafter bei der EU nur ganz widerwillig und sich eigentlich sträubend zustimmen lassen, wo sie doch eigentlich angeblich nichts als Kooperation mit Moskau wollen.
Mit dem gleichen politischen und medialen Gegenwind hat Altbundeskanzler Gerhard Schröder seit langem zu tun. In einem am 18. Juni in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten Interview warnte er: „Wir sollten jetzt darauf achten, nicht in einen neuen Rüstungswettlauf einzusteigen. Das trägt nicht dazu bei, Konflikte zu reduzieren und ein gutes Verhältnis mit Russland wiederherzustellen.“ Die Ängste der Osteuropäer seien zwar historisch verständlich, so Schröder, aber daraus sollten keine überzogenen Schlüsse daraus ziehen: "Die Vorstellung, dass irgendjemand in der russischen Führung die Absicht haben könnte, in Nato-Staaten zu intervenieren, hat mit der Realität nichts zu tun." Wichtig sei nun, einen Schritt auf Russland zuzugehen. "Deutschland sollte aufpassen, dass seine privilegierte politische und ökonomische Partnerschaft mit Russland nicht verloren geht. Wir dürfen die Erfolge der Ostpolitik Willy Brandts nicht verspielen", sagte Schröder laut der Süddeutschen. Der Versuch von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, die Sanktionen "schrittweise abzubauen", sei "richtig und muss unterstützt werden". Ob irgendwer auf Schröder hört, anstatt ihm als Reaktion seine Tätigkeit für das russische Unternehmen Gazprom vorzuwerfen, das bleibt mindestens abzuwarten. Denn es fehlt eben der politische Wille, auf Russland wieder zuzugehen, selbst am Vorabend des 75. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion.

Unfähig zu einer historischen Geste?


Altkanzler Schröder erinnert in dem Interview unter anderem an eine „große historische Geste“ des russischen Präsidenten Wladimir Putin: „Präsident Putin hat mich und meine Frau 2005 bei den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Kriegsendes auf dem Roten Platz neben die Vertreter der Siegermächte platziert. … In seiner Rede hieß er ein friedliches Deutschland willkommen.“ Schröder fügte gegenüber der Süddeutschen hinzu: „Und was geschieht jetzt?“ Statt der auch vom Altbundeskanzler kritisierten dauerhaften Stationierung von Nato-Truppen an der Grenze zu Russland wäre eine neue historische Geste notwendig, diesmal vom Westen, aus Berlin. Gerade der 75. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion wäre aus meiner Sicht ein hervorragender Anlass dafür, etwas nachzuholen, was spätestens seit dem 9. Mai 1945 fehlt: Ein Akt der Entschuldigung von deutscher Seite bei den Völkern der einstigen Sowjetunion, Russlands und der anderen einstigen Sowjetrepubliken für all das Leid, den millionenfachen Mord, die Zerstörungen und auch den Hass, der diesen Vernichtungskrieg nährte. Ein solcher Akt, ähnlich dem Kniefall Willy Brandts in Warschau 1970. „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“, beschrieb Brandt in seinen „Erinnerungen“ sein Motiv für seine ungeplante Aktion. Es fehlt ein Politiker oder eine Politikerin hierzulande, der oder die nicht nur Brandts Ostpolitik der Entspannung wieder aufnimmt, sondern auch den Mut hat, mit einigen Kontinuitäten der deutschen Geschichte zu brechen, wie sie auch in der vergrößerten Bundesrepublik weiter wirken. Der DDR kann schlechterdings eine fehlende Entschuldigung nachgesagt werden, war sie doch nicht nur erklärtermaßen ein Bruch mit Kontinuitäten der deutschen Geschichte und den gesellschaftlichen Wurzeln und Ursachen für den deutschen Faschismus. Auf ihrem Gebiet, noch als sie die Sowjetische Besatzungszone war, die es ohne den 22. Juni 1941 nie gegeben hätte, wurden „revolutionäre gesellschaftspolitische Veränderungen“ durch die „radikale Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse“ vorgenommen, wie sie in den Westzonen und der daraus hervorgegangenen BRD ausblieben, wie unter anderem der Historiker Rolf Steininger feststellte.
Gerade die seit 1990 größere Bundesrepublik, die das ohne die Zustimmung der damals noch existierenden Sowjetunion nicht auf friedlichem Weg hätte werden können, wäre der richtige Absender einer solchen Entschuldigung. Die Bundesregierung erklärt immer wieder, so im Juni 2015 gegenüber der Linksfraktion im Deutschen Bundestag, dass das Deutsche Reich nicht untergegangen und die Bundesrepublik Deutschland mit diesem „als Völkerrechtssubjekt identisch ist“. Das war „stets die Auffassung der Bundesregierung“ worauf bereits eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag vom 3. September 2013 aufmerksam machte. Das wird bis heute mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 (BVerfGE 36, S. 1, 16; vgl. auch BVerfGE 77, S. 137, 155) begründet, in deren Leitsätzen es heißt: „Es wird daran festgehalten (vgl. z. B. BVerfG, 1956-08-17, 1 BvB 2/51, BVerfGE 5, 85 <126>), dass das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch die Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die Alliierten noch später untergegangen ist …“ Es war eben dieses vermeintlich völkerrechtlich fortbestehende Deutsche Reich, das auch unter der faschistischen Herrschaft weiterbestand, dessen Wehrmacht die Sowjetunion überfiel, um sie zu vernichten.
Das wäre doch eine gute Grundlage dafür, dass entweder Bundespräsident Joachim Gauck oder Bundeskanzlerin Angela Merkel sich kurzfristig auf den Weg nach Moskau machen, um vor dem Grabmal des unbekannten Soldaten niederzuknien als Zeichen der Entschuldigung. Sicher, von Bundespräsidentendarsteller Gauck ist alles, bloß das nicht zu erwarten. Aber auch Angela Merkel dürfte leider nicht zu solch einer historischen Geste gegenüber den Menschen Russlands und aller anderen einstigen Sowjetrepubliken in der Lage sein. Sie müsste sich erstmal beim russischen Präsidenten entschuldigen dafür, dass sie am 10. Mai 2015 neben Putin stehend die russische Politik im Fall der Krim als "verbrecherisch" deklarierte. Auch diese Entschuldigung fehlt weiter und das hat eben auch etwas mit den deutschen Kontinuitäten zu tun. Dafür gedenkt die Bundesregierung mit eigenen Veranstaltungen insbesondere der deutschen Vertriebenen und der Opfer des "Volksaufstandes vom 17. Juni 1953" in der DDR und richtet aber ausdrücklich „selbst keine Gedenkveranstaltung anlässlich des 75. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion aus“.

Nicht in meinem Namen


Ich weiß, dass ein Text wie dieser niemanden im Kanzleramt oder im Berliner Schloss Bellevue auch nur ansatzweise zum Umdenken und Organisieren einer spontanen Fahrt nach Moskau zum morgigen 22. Juni bringt. Deshalb werde ich an dem Tag meinen ganz persönlichen symboilschen Kniefall vor einem der sowjetischen Ehrenmäler in der Bundeshauptstadt machen. Das tue ich nicht stellvertretend für Gauck oder Merkel oder sonst wen, sondern ganz allein für mich, auch weil ich seit kurzem weiß, dass einer meiner beiden Großväter von Beginn an als Soldat an dem faschistischen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion beteiligt war. Seine Einheit gehörte zu jenen, die am 22. Juni 1941 das Land überfielen, die an der Blockade Leningrads beteiligt waren und weiter Richtung Süden zogen. Sein letztes offizielles Lebenszeichen stammt von Herbst 1943 aus dem Gebiet der heutigen Ukraine. Er kam aus diesem Krieg nicht wieder zu seiner Familie, zu seiner Frau und seinen vier Töchtern zurück. Er habe mal gesagt, schon in Uniform, dass er nie auf Menschen schießen werde, berichtete mir eine seiner Töchter, meine Mutter. Ob er sich daran halten konnte in diesem von Hitler schon während der Vorbereitung dazu ausgerufenen „Vernichtungskampf“? Der Ofenbauer, der anderen Menschen ein warmes Zuhause schuf, musste mitmachen beim Zerstören der Häuser und Wohnungen anderer Menschen, die ihm und allen anderen, die mit ihm marschierten, nie auch nur ein Leid angetan hatten. Inwieweit er freiwillig, gar bereitwillig in diesen Vernichtungskrieg mitmarschierte, weiß ich nicht. Meiner Mutter, die er nur noch einmal sah, als sie nicht einmal ein Jahr alt war, blieben nur wenig Erinnerungen an ihren Vater, auch weil ihre Familie in Folge des deutschen Überfalls später aus ihrer Heimat im Osten vertrieben wurde. Mein Großvater war sicher kein sonderlich politischer Mensch und hat sich wahrscheinlich wie viele gedacht, dass er sowieso nichts ausrichten könne und es eben seine Pflicht war, zu marschieren. Mein anderer Großvater, der das Glück hatte, nicht in den Krieg ziehen zu müssen, aber Kriegsgefangene bewachte, erklärte mir mal, dass ja niemand Nein sagen konnte, sonst wäre er erschossen worden. Heute verstehe ich dieses Gefühl der Machtlosigkeit, der Ohnmacht gut bzw. besser als noch vor Jahren, auch wenn es keine Entschuldigung sein kann.
Ich weiß auch, dass ich nichts wieder gutmachen kann von all dem in deutschem Namen angerichteten Leid. Ich kann nur mit meinen beschränkten Möglichkeiten zeigen, dass jene Politiker und ihre medialen Handlanger, die neue Feindschaft gegenüber Russland predigen und befördern und die wieder deutsche Soldaten und Waffen mit dem Balkenkreuz an die russische Grenze schicken, nicht in meinem Namen handeln. Das werde ich am 22. Juni und auch danach tun, so wie ich es schon vorher tat. Ich tue es auch als Entschuldigung stellvertretend für meinen Großvater, der vielleicht damit einverstanden gewesen wäre und der nicht nur seinen Töchtern fehlte, weil er vor 75 Jahren in einen Vernichtungskrieg befohlen wurde, den er selbst nicht überlebte.

Zum Schluß noch der Hinweis auf folgende Veranstaltungen am 22. Juni 2016 in Berlin:
Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion
22. Juni 2016, 15 Uhr, Deutsches Historisches Museum, Schlüterhof, Unter den Linden 2, 10117 Berlin
u.a. mit Gedenkrede von Prof. Dr. Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundestages

Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion

22. Juni, 18 Uhr, Sowjetisches Ehrenmal, Berlin-Tiergarten, Straße des 17. Juni
Es spricht u.a. Prof. Dr. Erhard Eppler, Bundesminister a.D.

"Es war doch so ein herrlicher Sommertag“ - Erinnerungen an den 22. Juni 1941 - Bewohner des Internationalen Kinderheims von Iwanowo erinnern sich

22. Juni, 19 Uhr, Haus der Demokratie und Menschenrechte, Robert-Havemann-Saal, Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin 
Veranstalter: Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) e.V., Stiftung Haus der Demokratie und Menschenrechte

Dazu noch der Hinweis auf drei aktuelle Bücher zum Thema:
Stefan Bollinger: "Meinst du, die Russen wollen Krieg? Über deutsche Hysterie und ihre Ursachen"
verlag am park, 2016
192 Seiten, 12,5 x 21,0 cm, brosch.
Buch 14,99 €
ISBN 978-3-945187-59-3
Verlagsinformationen

Kurt Pätzold: "Der Überfall - Der 22. Juni 1941: Ursachen, Pläne und Folgen"
edition ost, 2016
256 Seiten, 12,5 x 21,0 cm, brosch., mit Abbildungen
Buch 14,99 €
ISBN 978-3-360-01878-6
Verlagsinformationen

Erich Später: "Der dritte Weltkrieg - Die Ostfront 1941-45"
Conte Verlag, 2015
300 Seiten, engl. Broschur
ISBN 978-3-95602-053-7
Preis 16,90 €
Verlagsinformationen

Freitag, 10. Juni 2016

Was die Bundesregierung für gedenkwürdig hält

Ein kurzer Blick auf Ereignisse, derer die Bundesregierung unter Angela Merkel aktuell gedenkt, und welcher nicht, zeigt ihr Geschichtsbild und spricht nicht für sie

Am 20. Juni 2016 begeht die Bundesregierung mit einer Gedenkstunde im Schlüterhof des Deutschen Historischen Museums in Berlin den Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung. Mit diesem Gedenktag wird seit 2015 jährlich am 20. Juni an die Opfer von Flucht und Vertreibung weltweit sowie insbesondere an die deutschen Vertriebenen erinnert. ...
Quelle: Pressemitteilung der Bundesregierung, 10.6.16

Bundesregierung gedenkt der Opfer des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953
Die Gedenkveranstaltung der Bundesregierung zum 63. Jahrestag der Volkserhebung vom 17. Juni 1953 in der DDR findet am Freitag, dem 17. Juni 2016, am Mahnmal für die Opfer des Volksaufstandes auf dem Friedhof Seestraße 92 in Berlin-Wedding statt. ...
Quelle: Pressemitteilung der Bundesregierung, 9.6.16

Die Bundesregierung richtet selbst keine Gedenkveranstaltung anlässlich des 75. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion aus. Wie es in der Antwort (18/8532) auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke (18/8213) heißt, entspreche es dem Verständnis der Gedenkstättenkonzeption des Bundes, dass die Bundesregierung die Aufarbeitung von Geschichte sowie entsprechende Gedenkveranstaltungen nicht in Eigenregie durchführt, sondern deren Konzeption und Durchführung den fachkundigen (insbesondere bundesunmittelbaren) Einrichtungen der politischen, historischen und kulturellen Bildung überlässt, um ein wissenschaftlich fundiertes und gesellschaftlich verankertes Erinnerungswesen zu fördern. …
Quelle: Heute im Bundestag, 31.5.16

Bundeskanzlerin Angela Merkel wird auf Einladung des französischen Präsidenten François Hollande am 29. Mai 2016 nach Verdun reisen. Sie nimmt dort an der zentralen Gedenkfeier für den 100. Jahrestag der Schlacht von Verdun teil.
Anlässlich dieses Gedenktages wollen Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Hollande ein neues Zeichen der Aussöhnung und Freundschaft beider Länder setzen. ...

Quelle: Pressemitteilung der Bundesregierung, 20.5.16

aktualisiert: 17:09 Uhr