Der frühere SPD-Politiker und Bundesminister Erhard Eppler hielt am 22. Juni 2016 auf der Gedenkveranstaltung des Vereins Kontakte - контакты am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Tiergarten eine bewegende Rede, wie ich fand. Er hielt sie "als
einer der Letzten der Flak-Helfer-Generation, als einer, der das letzte
Jahr des Krieges als normaler Soldat überlebt hat" gegen "alten Hass
und neuen Unverstand": "Ich möchte, dass dieser Jahrestag, an
dem die Völker der Sowjetunion ihren großen opfervollen vaterländischen
Krieg feiern und wir Deutschen an einen der dunkelsten Abschnitte
unserer Geschichtte erinnert werden, zu einem politischen Willen führt:
Die neue und völlig unzeitgemäße Spaltung unseres Kontinents zu
verhindern!"
Es war eine Rede, die andeutete, wie eine historische Geste der Entschuldigung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Russland und den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion aussehen könnte, die ich bis heute vermisse. Das was Eppler sagte, das müsste von der Bundeskanzlerin Angela Merkel oder von Bundespräsident Joachim Gauck zu hören sein, die sich aber dem wie ihre Vorgänger weiter verweigern. Die Worte werden auch nicht dadurch geschmälert, dass Eppler historische Erkenntnisse vermissen ließ, als er früher dem Kriegseinsatz der Bundeswehr gegen Jugoslawien 1999 ebenso zustimmte wie dem Befehl an die Bundeswehr 2001, in den längsten Kriegseinsatz einer deutschen Armee nach Afghanistan zu ziehen.
Die Rede kann hier auf Youtube nachgehört werden. Ich habe sie nochmal aufgeschrieben:
"Als mich Professor Morsch einlud, hierherzukommen, hatte er sich überlegt, dass wir hier ein Zeichen setzen wollen. Und er hat auch darüber nachgedacht, dass vielleicht jemand, der heute die Politik bestimmt, hier stehen könnte, um dieses Zeichen zu setzen. Wenn ich in meinem 90. Lebensjahr hierhergekommen bin, dann einfach in der geringen Hoffnung, dass dies notiert wird.
Was ich heute sage, verantworte ich ganz allein. Ich rede für keine Partei, für keinen Verein, für keine Kirche. Ich rede als einer der Letzten der Flakhelfer-Generation, einer, der das letzte Jahr des letzten Krieges noch als normaler regulärer Soldat überlebt hat.
Die Mehrheit der Deutschen hat sich nach dem 2. Weltkrieg nicht darum gedrückt, die Verbrechen des NS-Regimes, und notfalls in ihrer ganzen Scheußlichkeit, zu schildern, damit sie sich nie wiederholen. Am besten ist uns dies gelungen, wo es um den Judenmord ging. Dass wir über den Feldzug, der heute vor 75 Jahren begann, sehr viel weniger wissen, hat einen ganz einfachen Grund, nämlich den Kalten Krieg. Auch im Kalten Krieg gab es Freund und Feind, und für uns in Westdeutschland war der neue Feind der alte. Und die Propaganda gegen den neuen Feind knüpfte manchmal da an, wo die gegen den alten aufgehört hatte. Es war einfach nicht opportun, zu berichten oder auch nur zu forschen über das, was zwischen 41 und 45 geschehen war. Und so blieb das Bild dieses Ostfeldzugs unscharf. Es blieb bei dem, was die Älteren noch wussten aus den Wehrmachtsberichten, aus Feldpostbriefen, oder aus dem, was die wenigen gesprächigen Soldaten erzählt hatten.
Sicher, die Zahl der sowjetischen Menschenopfer, die sich immer oberhalb der 20-Millionengrenze bewegte, blieb nicht geheim. Aber es blieb bei einer abstrakten Zahl. Wer kann sich schon 27 Millionen Tote vorstellen, im Kampf gefallen, nach dem Kampf erschossen, als Partisanen erhängt oder im Lager verhungert? Dass man in Russland anders Krieg geführt hatte als noch in Frankreich, wurde nie geleugnet. Aber das soll davon hergekommen sein, dass eben zwei harte Diktaturen zusammenprallten. Was wirklich in einem der blutigsten Kriege der Weltgeschichte vor sich ging, wozu deutsche Soldaten der Waffen-SS, aber eben auch des Heeres, fähig waren, ist nie voll ins Bewusstsein unserer Nation gedrungen.
Wir Deutschen wissen von Oradour in Frankreich, von Lidice in Tschechien, wo Dörfer mitsamt ihrer Bevölkerung ausgelöscht wurden. Aber wir wissen nicht, wie viele Hundert Oradours und Lidices es im Bereich der Sowjetunion gegeben hat. Allein in Weißrussland waren es über 200. Und zwar meist, nicht alle, auf dem Rückzug, als Teil der „verbrannten Erde“. Wer von uns weiß schon, dass es deutsche Generale gab, die offen aussprachen, dass man die nicht mehr arbeitsfähigen sowjetischen Gefangenen eben verhungern lassen müsse. Vielleicht haben wir alle erfahren, dass es deutsche Offiziere gab, die den „Kommissar-Befehl“ einfach nicht ausführten, und übrigens unbestraft blieben. Aber wir wissen nicht genau, in wieviel tausend Fällen Kommissare nach der Gefangennahme sofort exekutiert wurden. Ja, es gab einen Rest preußischer Korrektheit, manchmal sogar Ritterlichkeit, aber die Regel war es nicht.
Vor 75 Jahren war ich 14 Jahre alt. Meinen 17. Geburtstag habe ich in einer Flakstellung in Karlsruhe, meinen 18. an der Westfront in Holland erlebt. Dort war ich der Jüngste in einer Kompanie aus lauter Obergefreiten, die alle Ost-Erfahrung hatten. Was sie gelegentlich abends vor dem Einschlafen erzählten, treibt mich noch heute um. Ein Beispiel: Es war ein stämmiger Alemanne vom Hochrhein, der die „Goldfasanen“, wie er sagte, also die Nazis, hasste, und der seelenruhig erzählte, wie sie im Winter 41 auf 42 eine Gruppe russischer Infanteristen gefangen nahmen, die wunderbare warme Filzstiefel anhatten, während sie selbst immer eiskalte Füße hatten. Was, so der Obergefreite, was blieb den „Landsern“ anderes übrig, als „diese Kerle umzulegen“, um an ihre Stiefel zu kommen?
Wer solche und allzu ähnliche Geschichten mit sich herumträgt, kommt nie in die Versuchung, über Russen aus der Position moralischer Überlegenheit zu reden. Aber genau dies ist wieder Mode geworden. Dass Menschen, die keineswegs abartig böse waren, so handeln konnten, war nur möglich, weil die Führung der Wehrmacht ihre Soldaten hat wissen lassen, dass ein Russenleben eben nicht annähernd so wertvoll ist wie das eines Deutschen.
Daher erst ein paar Fakten, die das Besondere dieses Feldzugs erkennbar machen:
1. Was heute vor 75 Jahren begann, war zuerst einmal der Bruch eines Nichtangriffspaktes, der noch keine zwei Jahre alt war. Stalin wollte das ja lange gar nicht glauben, dass Hitler dies tut.
2. Die kriegsrechtswidrigen Befehle an die Wehrmacht, etwa der „Kommissar-Befehl“ oder der Befehl, dass Kriegsgerichte sich nicht mit Verfehlungen an der Zivilbevölkerung zu beschäftigen hätten, waren keine Reaktionen auf Handlungen der roten Armee. Sie wurden lange vor Beginn des Feldzugs, oft schon im März 1941, erlassen.
3. Da es zu Beginn kaum deutsche Kriegsgefangene gab, war das Sterbenlassen, das Verhungernlassen von drei Millionen russischer Kriegsgefangenen eine von niemandem provozierte Entscheidung allein der deutschen Führung.
4. Das Ziel des Überfalls war nicht nur das Ende des Stalinismus, sondern das Ende einer jeden selbständigen Staatlichkeit auf dem Gebiet der Sowjetunion. Slawen galten als nicht staatsfähig, sie sollten Sklavendienste leisten.
Und Fünftens: Der Überfall vor 75 Jahren war die erste militärische Operation der Geschichte, der eine Rassenlehre zugrunde lag. Danach gab es Völker, die zur Herrschaft, andere, die zur Sklaverei geboren waren. Und erst auf diesem Hintergrund verstehen wir, was die Russen und die vielen anderen früher sowjetischen Völker als den „Großen Vaterländischen Krieg“ feiern.
Man konnte die slawischen Völker nicht, wie etwa die Juden, einfach ausrotten, aber man konnte sie dezimieren. So war der Hungertod von mehr als drei Millionen Kriegsgefangenen nicht nur darauf zurückzuführen, dass die Wehrmacht in den ersten Monaten mit der Zahl der Gefangenen tatsächlich überfordert war. Er war die Folge von Entscheidungen, die diesen schauerlichen Hungertod als Mittel der Dezimierung rechtfertigten. Die kriminellen Ziele erzwangen schließlich auch die kriminellen Mittel.
Ich will an dieser Stelle nicht ausklammern, was Deutsche, vor allem Frauen, zu leiden hatten, als die Rote Armee das Land erreicht hatte, von dem der Schrecken ausging. Jedes menschliche Leiden hat seine eigene Würde und verlangt nach Mitleiden. Aber Friedrich Schiller hätte wohl dazu gesagt: „Das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend Böses muss gebären.“ Wir, die wir heute zusammengekommen sind, lehnen uns auf gegen dieses schauerliche Muss, indem wir die böse Tat benennen, sie als Teil unserer Geschichte annehmen, damit nicht sie nicht auch für unsere Kinder und Enkel und Urenkel Böses gebären muss.
Damit ist allerdings nicht gesagt, dass die deutschen Soldaten, die diesen Krieg führten, eine Horde von Kriminellen waren. Die meisten waren keine Rassisten. Sie taten, was sie für ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit hielten, und viele hielten sich auch an die Anstandsregeln, die sie zuhause gelernt hatten. Aber sie hatten oft nicht den Mut, rechtswidrige Befehle zu verweigern. So waren es meist die Offiziere, die Chefs der Kompanien oder Bataillone, die den Ausschlag gaben. Und später, nach Stalingrad, als die Rote Armee in die Offensive ging, fühlten deutsche Soldaten sich als Verteidiger ihres Landes, oft in dem Wissen, dass sie diesen Krieg gegen zwei Weltmächte nicht gewinnen konnten, dass ihr Widerstand sinnlos war.
Was das für den Einzelnen bedeutete, will ich am Beispiel meines älteren Bruders darstellen. Der 23-jährige Leutnant der Funker im Mittelabschnitt der Ostfront malte in einem Feldpostbrief vom 4. April 1944, also vom 4.4.44, alle Vierer im Datum so, dass sie wie Kreuze aussahen. Im Brief selbst war nicht von den Ahnungen die Rede, aber die vier Kreuze waren eindeutig. Er ahnte offenbar, was kommen würde. Und tatsächlich kam er zwei Monate später im Angriff der Roten Armee auf den Mittelabschnitt um. Und zwar so, dass ich bis heute nicht weiß, wo er verscharrt wurde. Er, der deutsche Offizier, der sich Arm in Arm mit zwei russischen Hilfswilligen fotografieren ließ und von dem ich nie ein böses Wort, oder auch verächtliches Wort über die Russen gehört habe, war wie viele andere Soldaten kein Krimineller, sondern Instrument und Opfer einer kriminellen Unternehmung.
Dankbar verwundert habe ich mir in den Siebziger Jahren sagen lassen, dass die Mehrheit der Russen, die den Sieg über die Invasoren feiern, den Deutschen vergeben haben, dass sie erleichtert waren, als Willy Brandt die Versöhnung einleitete. Wenn es stimmt, dass seit der Ukraine-Krise die Stimmung in den russischen Familien wieder umgeschlagen ist, muss uns das allen zu denken geben. Gelten wir jetzt vielleicht als undankbar? Gorbatschow hat uns die Einheit geschenkt, und zwar großzügiger als ich mir das vorher vorstellen konnte. Und was tun wir?
Hier ist nicht der Ort, an dem zu entscheiden ist, was der deutschen Außenpolitik möglich ist und was nicht. Aber der Ort, wo gesagt werden muss, was nicht mehr sein darf: Wer als Deutscher über Russland und seine Menschen redet, auch über seine Politiker, auch über seinen Präsidenten, muss im Gedächtnis haben, was heute vor 75 Jahren begonnen hat. Dann wird jede verletzende Arroganz, die wir in unseren Medien häufig finden, verfliegen und sich das Bedürfnis regen, wenigstens einen Bruchteil des Horrors wieder gutzumachen, den wir angerichtet haben.
Wir Deutsche haben Michail Gorbatschow zugejubelt, als er vom „gemeinsamen Haus Europa“ sprach. Aber wir haben doch gewusst, dass dieses Haus, wenn es ein Russe sagt, auch eine Wohnung für das Volk der Russen haben musste. Und heute können wir hinzuzufügen, auch noch eine für die Ukrainer.
Wir können heute allerdings keinem Nationalgefühl mehr trauen, das untrennbar mit dem Hass auf ein anderes Volk verbunden ist. Es mag ja sein, dass in Kiew nur der ein guter Ukrainer ist, der die Russen hasst. Ein guter Europäer ist für uns, der weiß, dass die Russen ein europäisches Volk sind. Der auch weiß, dass das jammervoll heruntergewirtschaftete Land der Ukraine nur eine Chance bekommt, wenn die Europäische Union und Russland dies gemeinsam wollen.
Liebe Freunde, es gibt inzwischen auch einen russischen Nationalismus. Er ist vor allem durch die Ukraine-Krise gewachsen. Es ist ein Nationalismus der Enttäuschten, der Verletzten, des Trotzes, ja der Gedemütigten – wie er in Deutschland in den der Zwanziger Jahren, in den ich geboren bin, aufkam. Deshalb kann ich ihn verstehen, muss ihn aber auch fürchten. Reichlich naiv finde ich die Stimmen im Westen, die uns belehren: Die Russen hätten doch gar keinen Anlass, kein Recht, sich gedemütigt zu fühlen. Noch nie hat ein großes Volk andere um die Erlaubnis gebeten, sich gedemütigt zu fühlen. Gerade das Nichtverstehen wird als zusätzliche Demütigung empfunden. Wir sollten uns eher fragen, was wir Deutschen dazu beigetragen haben und was wir tun können, diesem Nationalismus den Nährboden zu entziehen. Zu diesem Nährboden gehören auch die Sanktionen, denn sie trennen konkurrierende Nationen in Richter und Delinquenten. Das ist demütigend.
Damit kein Missverständnis aufkommt, lassen Sie mich konkret werden: Der russische Präsident Putin bedient sich vielleicht manchmal dieses Nationalismus, aber er ist viel zu rational, man könnte ja auch sagen: viel zu klug, um sich davon mitreißen zu lassen. Ich fürchte nicht ihn. Ich fürchte den seiner Nachfolger, der sich von einem Nationalismus der Gedemütigten tragen und bestimmen ließe. Er könnte wirklich so sein, wie viele im Westen heute Putin malen. Ich rede von diesem Nationalismus, weil wir ihn anheizen und weil wir ihm den Boden entziehen können, etwa dadurch, dass die Bundesrepublik des vereinigten Deutschland darauf besteht, dass das leidgeprüfte Volk der Russen ein europäisches Volk ist und dass ihm ein Platz in einem europäischen Haus zusteht.
Es ist ja gut so, dass die Bundesregierung und in ihr vor allem der Außenminister darauf achtet, dass der Gesprächsfaden mit Moskau nicht abreißt. Aber es kommt auch darauf an, worüber man mit der russischen Regierung reden will. Was läge da näher, heute, neben den Sanktionen, als der Versuch, ein neues Wettrüsten zwischen Ost und West zu verhindern? Ein Wettrüsten, das im 21. Jahrhundert mit politischem Weitblick nichts, mit Fixiertheit auf die Vergangenheit aber viel zu tun hat.
In der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts, also noch einige Jahrzehnte, werden die zivilisierten Völker Europas sich des islamistischen Terrors zu erwehren haben. Der „war on terrorism“, den der jüngere Bush vor 15 Jahren proklamierte, hat vor allem durch Fehlentscheidungen in Washington nur dazu geführt, dass es heute anders als 2001 einen islamistischen Terror-Staat gibt, der immer neue Ableger zu bilden versucht, mit und ohne Erfolg, sogar in Afrika. Auch Deutschland liegt im Visier dieses Terrors. Kurzum: Im Kampf gegen den Terror hat sich die westliche Welt nicht mit Ruhm bedeckt. Und sie kann Verbündete brauchen. Und Russland ist ein möglicher Verbündeter.
Manchmal erinnert mich dieses Wettrüsten, das da jetzt beginnt und über das sich jetzt auch unser Außenminister seine Gedanken macht, fast an einen schlechten Scherz. Und wenn wir mit Moskau reden wollen, dann lautet das wichtigste Thema: Wie lässt sich dieser vermeidbare Unsinn vermeiden? Ich sehe auf beiden Seiten kein Interesse an einem neuen, geschichtlich gänzlich obsoleten Krieg. Die NATO ist nicht so verrückt, Hitler kopieren zu wollen. Und Wladimir Putin hütet sich, die NATO direkt herauszufordern. Als der ukrainische frühere Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk fast täglich erklärte, sein Land befinde sich bereits im Kriegszustand mit Russland, hat Putin dies einfach überhört. Er hätte dies auch als Kriegserklärung werten und seine Divisionen marschieren lassen können. Dass Putin – und zwar nach der Sezession der Krim – diese annektiert und damit das Völkerrecht verletzt hat, ist doch kein Beweis dafür, dass er halb Europa erobern will. Immerhin liegt in Sewastopol die russische Schwarzmeerflotte. Und sollte der russische Präsident zitternd abwarten, ob eine leidenschaftlich antirussische Regierung in Kiew nicht doch noch Gründe finden würde, den Pachtvertrag zu kündigen? Michail Gorbatschows Aussage, er hätte in Sachen Krim genauso gehandelt als Putin, sollte uns zu denken geben.
Russen, ob sie Putin oder Gorbatschow heißen, fühlen sich nämlich in der Defensive. Wenn man sinnvoll miteinander reden will, dann darüber, wie sich ein Wettrüsten auf beiden Seiten verhindern lässt. Und wenn man dann bei der sehr praktischen Aufgabe der friedlichen Grenzsicherung vorankommt, dann kann man sich auch einmal darüber austauschen, wo und wie der Grundstein zum gemeinsamen europäischen Haus zu legen wäre.
Ich habe zu Beginn gesagt, ich rede hier für niemanden. Das stimmt beinahe, aber nicht ganz. Ich rede vor allem für meine sechs Urenkel, die jetzt vital und unendlich charmant herankrabbeln, und manchmal auch schon heranspringen. Ich möchte nicht, dass sie einst in einem Europa leben, das nur noch ein amerikanischer Brückenkopf in einem chinesisch-russischen Eurasien ist. Ich möchte nicht, dass alter Hass und neuer Unverstand Russland in eine Allianz treibt, die es gar nicht will und die Europa extrem verletzbar und abhängig machen müsste.
Ich möchte, dass dieser Jahrestag, an dem die Völker der Sowjetunion ihren großen opfervollen vaterländischen Krieg feiern und wir Deutschen an einen der dunkelsten Abschnitte unserer Geschichte erinnert werden, ich möchte, dass dies zu einem politischen Willen führt: Nämlich die neue und völlig unzeitgemäße Spaltung unseres Kontinents zu verhindern.
Der 22. Juni 1941 ist ein europäisches Datum. Wenn jemand die Pflicht und dann eben auch das Recht hat, daraus Schlüsse abzuleiten, dann sind es wir Deutschen. Einer davon muss lauten: Wir werden nicht einfach zusehen, wie die legitimen Teile Europas gegeneinander aufgerüstet werden. Und wir werden keine Ruhe geben, bis aus Gorbatschows Traum vom Europäischen Haus Wirklichkeit wird."
Die taz hat am 22.6.16 ein Interview mit Erhard Eppler über seine Erinnerungen a den Beginn des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion veröffentlicht.
Das politische Kulturmagazin Die Gazette hat in seiner kürzlich erschienenen Ausgabe 50 eine Analyse Erhard Epplers über "Die verkannte Demütigung der Russen" veröffentlicht. Das Heft ist im gut sortierten Zeitschriftenhandel zu bekommen.
Es war eine Rede, die andeutete, wie eine historische Geste der Entschuldigung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Russland und den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion aussehen könnte, die ich bis heute vermisse. Das was Eppler sagte, das müsste von der Bundeskanzlerin Angela Merkel oder von Bundespräsident Joachim Gauck zu hören sein, die sich aber dem wie ihre Vorgänger weiter verweigern. Die Worte werden auch nicht dadurch geschmälert, dass Eppler historische Erkenntnisse vermissen ließ, als er früher dem Kriegseinsatz der Bundeswehr gegen Jugoslawien 1999 ebenso zustimmte wie dem Befehl an die Bundeswehr 2001, in den längsten Kriegseinsatz einer deutschen Armee nach Afghanistan zu ziehen.
Die Rede kann hier auf Youtube nachgehört werden. Ich habe sie nochmal aufgeschrieben:
"Als mich Professor Morsch einlud, hierherzukommen, hatte er sich überlegt, dass wir hier ein Zeichen setzen wollen. Und er hat auch darüber nachgedacht, dass vielleicht jemand, der heute die Politik bestimmt, hier stehen könnte, um dieses Zeichen zu setzen. Wenn ich in meinem 90. Lebensjahr hierhergekommen bin, dann einfach in der geringen Hoffnung, dass dies notiert wird.
Was ich heute sage, verantworte ich ganz allein. Ich rede für keine Partei, für keinen Verein, für keine Kirche. Ich rede als einer der Letzten der Flakhelfer-Generation, einer, der das letzte Jahr des letzten Krieges noch als normaler regulärer Soldat überlebt hat.
Die Mehrheit der Deutschen hat sich nach dem 2. Weltkrieg nicht darum gedrückt, die Verbrechen des NS-Regimes, und notfalls in ihrer ganzen Scheußlichkeit, zu schildern, damit sie sich nie wiederholen. Am besten ist uns dies gelungen, wo es um den Judenmord ging. Dass wir über den Feldzug, der heute vor 75 Jahren begann, sehr viel weniger wissen, hat einen ganz einfachen Grund, nämlich den Kalten Krieg. Auch im Kalten Krieg gab es Freund und Feind, und für uns in Westdeutschland war der neue Feind der alte. Und die Propaganda gegen den neuen Feind knüpfte manchmal da an, wo die gegen den alten aufgehört hatte. Es war einfach nicht opportun, zu berichten oder auch nur zu forschen über das, was zwischen 41 und 45 geschehen war. Und so blieb das Bild dieses Ostfeldzugs unscharf. Es blieb bei dem, was die Älteren noch wussten aus den Wehrmachtsberichten, aus Feldpostbriefen, oder aus dem, was die wenigen gesprächigen Soldaten erzählt hatten.
Sicher, die Zahl der sowjetischen Menschenopfer, die sich immer oberhalb der 20-Millionengrenze bewegte, blieb nicht geheim. Aber es blieb bei einer abstrakten Zahl. Wer kann sich schon 27 Millionen Tote vorstellen, im Kampf gefallen, nach dem Kampf erschossen, als Partisanen erhängt oder im Lager verhungert? Dass man in Russland anders Krieg geführt hatte als noch in Frankreich, wurde nie geleugnet. Aber das soll davon hergekommen sein, dass eben zwei harte Diktaturen zusammenprallten. Was wirklich in einem der blutigsten Kriege der Weltgeschichte vor sich ging, wozu deutsche Soldaten der Waffen-SS, aber eben auch des Heeres, fähig waren, ist nie voll ins Bewusstsein unserer Nation gedrungen.
Wir Deutschen wissen von Oradour in Frankreich, von Lidice in Tschechien, wo Dörfer mitsamt ihrer Bevölkerung ausgelöscht wurden. Aber wir wissen nicht, wie viele Hundert Oradours und Lidices es im Bereich der Sowjetunion gegeben hat. Allein in Weißrussland waren es über 200. Und zwar meist, nicht alle, auf dem Rückzug, als Teil der „verbrannten Erde“. Wer von uns weiß schon, dass es deutsche Generale gab, die offen aussprachen, dass man die nicht mehr arbeitsfähigen sowjetischen Gefangenen eben verhungern lassen müsse. Vielleicht haben wir alle erfahren, dass es deutsche Offiziere gab, die den „Kommissar-Befehl“ einfach nicht ausführten, und übrigens unbestraft blieben. Aber wir wissen nicht genau, in wieviel tausend Fällen Kommissare nach der Gefangennahme sofort exekutiert wurden. Ja, es gab einen Rest preußischer Korrektheit, manchmal sogar Ritterlichkeit, aber die Regel war es nicht.
Vor 75 Jahren war ich 14 Jahre alt. Meinen 17. Geburtstag habe ich in einer Flakstellung in Karlsruhe, meinen 18. an der Westfront in Holland erlebt. Dort war ich der Jüngste in einer Kompanie aus lauter Obergefreiten, die alle Ost-Erfahrung hatten. Was sie gelegentlich abends vor dem Einschlafen erzählten, treibt mich noch heute um. Ein Beispiel: Es war ein stämmiger Alemanne vom Hochrhein, der die „Goldfasanen“, wie er sagte, also die Nazis, hasste, und der seelenruhig erzählte, wie sie im Winter 41 auf 42 eine Gruppe russischer Infanteristen gefangen nahmen, die wunderbare warme Filzstiefel anhatten, während sie selbst immer eiskalte Füße hatten. Was, so der Obergefreite, was blieb den „Landsern“ anderes übrig, als „diese Kerle umzulegen“, um an ihre Stiefel zu kommen?
Wer solche und allzu ähnliche Geschichten mit sich herumträgt, kommt nie in die Versuchung, über Russen aus der Position moralischer Überlegenheit zu reden. Aber genau dies ist wieder Mode geworden. Dass Menschen, die keineswegs abartig böse waren, so handeln konnten, war nur möglich, weil die Führung der Wehrmacht ihre Soldaten hat wissen lassen, dass ein Russenleben eben nicht annähernd so wertvoll ist wie das eines Deutschen.
Daher erst ein paar Fakten, die das Besondere dieses Feldzugs erkennbar machen:
1. Was heute vor 75 Jahren begann, war zuerst einmal der Bruch eines Nichtangriffspaktes, der noch keine zwei Jahre alt war. Stalin wollte das ja lange gar nicht glauben, dass Hitler dies tut.
2. Die kriegsrechtswidrigen Befehle an die Wehrmacht, etwa der „Kommissar-Befehl“ oder der Befehl, dass Kriegsgerichte sich nicht mit Verfehlungen an der Zivilbevölkerung zu beschäftigen hätten, waren keine Reaktionen auf Handlungen der roten Armee. Sie wurden lange vor Beginn des Feldzugs, oft schon im März 1941, erlassen.
3. Da es zu Beginn kaum deutsche Kriegsgefangene gab, war das Sterbenlassen, das Verhungernlassen von drei Millionen russischer Kriegsgefangenen eine von niemandem provozierte Entscheidung allein der deutschen Führung.
4. Das Ziel des Überfalls war nicht nur das Ende des Stalinismus, sondern das Ende einer jeden selbständigen Staatlichkeit auf dem Gebiet der Sowjetunion. Slawen galten als nicht staatsfähig, sie sollten Sklavendienste leisten.
Und Fünftens: Der Überfall vor 75 Jahren war die erste militärische Operation der Geschichte, der eine Rassenlehre zugrunde lag. Danach gab es Völker, die zur Herrschaft, andere, die zur Sklaverei geboren waren. Und erst auf diesem Hintergrund verstehen wir, was die Russen und die vielen anderen früher sowjetischen Völker als den „Großen Vaterländischen Krieg“ feiern.
Man konnte die slawischen Völker nicht, wie etwa die Juden, einfach ausrotten, aber man konnte sie dezimieren. So war der Hungertod von mehr als drei Millionen Kriegsgefangenen nicht nur darauf zurückzuführen, dass die Wehrmacht in den ersten Monaten mit der Zahl der Gefangenen tatsächlich überfordert war. Er war die Folge von Entscheidungen, die diesen schauerlichen Hungertod als Mittel der Dezimierung rechtfertigten. Die kriminellen Ziele erzwangen schließlich auch die kriminellen Mittel.
Ich will an dieser Stelle nicht ausklammern, was Deutsche, vor allem Frauen, zu leiden hatten, als die Rote Armee das Land erreicht hatte, von dem der Schrecken ausging. Jedes menschliche Leiden hat seine eigene Würde und verlangt nach Mitleiden. Aber Friedrich Schiller hätte wohl dazu gesagt: „Das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend Böses muss gebären.“ Wir, die wir heute zusammengekommen sind, lehnen uns auf gegen dieses schauerliche Muss, indem wir die böse Tat benennen, sie als Teil unserer Geschichte annehmen, damit nicht sie nicht auch für unsere Kinder und Enkel und Urenkel Böses gebären muss.
Damit ist allerdings nicht gesagt, dass die deutschen Soldaten, die diesen Krieg führten, eine Horde von Kriminellen waren. Die meisten waren keine Rassisten. Sie taten, was sie für ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit hielten, und viele hielten sich auch an die Anstandsregeln, die sie zuhause gelernt hatten. Aber sie hatten oft nicht den Mut, rechtswidrige Befehle zu verweigern. So waren es meist die Offiziere, die Chefs der Kompanien oder Bataillone, die den Ausschlag gaben. Und später, nach Stalingrad, als die Rote Armee in die Offensive ging, fühlten deutsche Soldaten sich als Verteidiger ihres Landes, oft in dem Wissen, dass sie diesen Krieg gegen zwei Weltmächte nicht gewinnen konnten, dass ihr Widerstand sinnlos war.
Was das für den Einzelnen bedeutete, will ich am Beispiel meines älteren Bruders darstellen. Der 23-jährige Leutnant der Funker im Mittelabschnitt der Ostfront malte in einem Feldpostbrief vom 4. April 1944, also vom 4.4.44, alle Vierer im Datum so, dass sie wie Kreuze aussahen. Im Brief selbst war nicht von den Ahnungen die Rede, aber die vier Kreuze waren eindeutig. Er ahnte offenbar, was kommen würde. Und tatsächlich kam er zwei Monate später im Angriff der Roten Armee auf den Mittelabschnitt um. Und zwar so, dass ich bis heute nicht weiß, wo er verscharrt wurde. Er, der deutsche Offizier, der sich Arm in Arm mit zwei russischen Hilfswilligen fotografieren ließ und von dem ich nie ein böses Wort, oder auch verächtliches Wort über die Russen gehört habe, war wie viele andere Soldaten kein Krimineller, sondern Instrument und Opfer einer kriminellen Unternehmung.
Dankbar verwundert habe ich mir in den Siebziger Jahren sagen lassen, dass die Mehrheit der Russen, die den Sieg über die Invasoren feiern, den Deutschen vergeben haben, dass sie erleichtert waren, als Willy Brandt die Versöhnung einleitete. Wenn es stimmt, dass seit der Ukraine-Krise die Stimmung in den russischen Familien wieder umgeschlagen ist, muss uns das allen zu denken geben. Gelten wir jetzt vielleicht als undankbar? Gorbatschow hat uns die Einheit geschenkt, und zwar großzügiger als ich mir das vorher vorstellen konnte. Und was tun wir?
Hier ist nicht der Ort, an dem zu entscheiden ist, was der deutschen Außenpolitik möglich ist und was nicht. Aber der Ort, wo gesagt werden muss, was nicht mehr sein darf: Wer als Deutscher über Russland und seine Menschen redet, auch über seine Politiker, auch über seinen Präsidenten, muss im Gedächtnis haben, was heute vor 75 Jahren begonnen hat. Dann wird jede verletzende Arroganz, die wir in unseren Medien häufig finden, verfliegen und sich das Bedürfnis regen, wenigstens einen Bruchteil des Horrors wieder gutzumachen, den wir angerichtet haben.
Wir Deutsche haben Michail Gorbatschow zugejubelt, als er vom „gemeinsamen Haus Europa“ sprach. Aber wir haben doch gewusst, dass dieses Haus, wenn es ein Russe sagt, auch eine Wohnung für das Volk der Russen haben musste. Und heute können wir hinzuzufügen, auch noch eine für die Ukrainer.
Wir können heute allerdings keinem Nationalgefühl mehr trauen, das untrennbar mit dem Hass auf ein anderes Volk verbunden ist. Es mag ja sein, dass in Kiew nur der ein guter Ukrainer ist, der die Russen hasst. Ein guter Europäer ist für uns, der weiß, dass die Russen ein europäisches Volk sind. Der auch weiß, dass das jammervoll heruntergewirtschaftete Land der Ukraine nur eine Chance bekommt, wenn die Europäische Union und Russland dies gemeinsam wollen.
Liebe Freunde, es gibt inzwischen auch einen russischen Nationalismus. Er ist vor allem durch die Ukraine-Krise gewachsen. Es ist ein Nationalismus der Enttäuschten, der Verletzten, des Trotzes, ja der Gedemütigten – wie er in Deutschland in den der Zwanziger Jahren, in den ich geboren bin, aufkam. Deshalb kann ich ihn verstehen, muss ihn aber auch fürchten. Reichlich naiv finde ich die Stimmen im Westen, die uns belehren: Die Russen hätten doch gar keinen Anlass, kein Recht, sich gedemütigt zu fühlen. Noch nie hat ein großes Volk andere um die Erlaubnis gebeten, sich gedemütigt zu fühlen. Gerade das Nichtverstehen wird als zusätzliche Demütigung empfunden. Wir sollten uns eher fragen, was wir Deutschen dazu beigetragen haben und was wir tun können, diesem Nationalismus den Nährboden zu entziehen. Zu diesem Nährboden gehören auch die Sanktionen, denn sie trennen konkurrierende Nationen in Richter und Delinquenten. Das ist demütigend.
Damit kein Missverständnis aufkommt, lassen Sie mich konkret werden: Der russische Präsident Putin bedient sich vielleicht manchmal dieses Nationalismus, aber er ist viel zu rational, man könnte ja auch sagen: viel zu klug, um sich davon mitreißen zu lassen. Ich fürchte nicht ihn. Ich fürchte den seiner Nachfolger, der sich von einem Nationalismus der Gedemütigten tragen und bestimmen ließe. Er könnte wirklich so sein, wie viele im Westen heute Putin malen. Ich rede von diesem Nationalismus, weil wir ihn anheizen und weil wir ihm den Boden entziehen können, etwa dadurch, dass die Bundesrepublik des vereinigten Deutschland darauf besteht, dass das leidgeprüfte Volk der Russen ein europäisches Volk ist und dass ihm ein Platz in einem europäischen Haus zusteht.
Es ist ja gut so, dass die Bundesregierung und in ihr vor allem der Außenminister darauf achtet, dass der Gesprächsfaden mit Moskau nicht abreißt. Aber es kommt auch darauf an, worüber man mit der russischen Regierung reden will. Was läge da näher, heute, neben den Sanktionen, als der Versuch, ein neues Wettrüsten zwischen Ost und West zu verhindern? Ein Wettrüsten, das im 21. Jahrhundert mit politischem Weitblick nichts, mit Fixiertheit auf die Vergangenheit aber viel zu tun hat.
In der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts, also noch einige Jahrzehnte, werden die zivilisierten Völker Europas sich des islamistischen Terrors zu erwehren haben. Der „war on terrorism“, den der jüngere Bush vor 15 Jahren proklamierte, hat vor allem durch Fehlentscheidungen in Washington nur dazu geführt, dass es heute anders als 2001 einen islamistischen Terror-Staat gibt, der immer neue Ableger zu bilden versucht, mit und ohne Erfolg, sogar in Afrika. Auch Deutschland liegt im Visier dieses Terrors. Kurzum: Im Kampf gegen den Terror hat sich die westliche Welt nicht mit Ruhm bedeckt. Und sie kann Verbündete brauchen. Und Russland ist ein möglicher Verbündeter.
Manchmal erinnert mich dieses Wettrüsten, das da jetzt beginnt und über das sich jetzt auch unser Außenminister seine Gedanken macht, fast an einen schlechten Scherz. Und wenn wir mit Moskau reden wollen, dann lautet das wichtigste Thema: Wie lässt sich dieser vermeidbare Unsinn vermeiden? Ich sehe auf beiden Seiten kein Interesse an einem neuen, geschichtlich gänzlich obsoleten Krieg. Die NATO ist nicht so verrückt, Hitler kopieren zu wollen. Und Wladimir Putin hütet sich, die NATO direkt herauszufordern. Als der ukrainische frühere Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk fast täglich erklärte, sein Land befinde sich bereits im Kriegszustand mit Russland, hat Putin dies einfach überhört. Er hätte dies auch als Kriegserklärung werten und seine Divisionen marschieren lassen können. Dass Putin – und zwar nach der Sezession der Krim – diese annektiert und damit das Völkerrecht verletzt hat, ist doch kein Beweis dafür, dass er halb Europa erobern will. Immerhin liegt in Sewastopol die russische Schwarzmeerflotte. Und sollte der russische Präsident zitternd abwarten, ob eine leidenschaftlich antirussische Regierung in Kiew nicht doch noch Gründe finden würde, den Pachtvertrag zu kündigen? Michail Gorbatschows Aussage, er hätte in Sachen Krim genauso gehandelt als Putin, sollte uns zu denken geben.
Russen, ob sie Putin oder Gorbatschow heißen, fühlen sich nämlich in der Defensive. Wenn man sinnvoll miteinander reden will, dann darüber, wie sich ein Wettrüsten auf beiden Seiten verhindern lässt. Und wenn man dann bei der sehr praktischen Aufgabe der friedlichen Grenzsicherung vorankommt, dann kann man sich auch einmal darüber austauschen, wo und wie der Grundstein zum gemeinsamen europäischen Haus zu legen wäre.
Ich habe zu Beginn gesagt, ich rede hier für niemanden. Das stimmt beinahe, aber nicht ganz. Ich rede vor allem für meine sechs Urenkel, die jetzt vital und unendlich charmant herankrabbeln, und manchmal auch schon heranspringen. Ich möchte nicht, dass sie einst in einem Europa leben, das nur noch ein amerikanischer Brückenkopf in einem chinesisch-russischen Eurasien ist. Ich möchte nicht, dass alter Hass und neuer Unverstand Russland in eine Allianz treibt, die es gar nicht will und die Europa extrem verletzbar und abhängig machen müsste.
Ich möchte, dass dieser Jahrestag, an dem die Völker der Sowjetunion ihren großen opfervollen vaterländischen Krieg feiern und wir Deutschen an einen der dunkelsten Abschnitte unserer Geschichte erinnert werden, ich möchte, dass dies zu einem politischen Willen führt: Nämlich die neue und völlig unzeitgemäße Spaltung unseres Kontinents zu verhindern.
Der 22. Juni 1941 ist ein europäisches Datum. Wenn jemand die Pflicht und dann eben auch das Recht hat, daraus Schlüsse abzuleiten, dann sind es wir Deutschen. Einer davon muss lauten: Wir werden nicht einfach zusehen, wie die legitimen Teile Europas gegeneinander aufgerüstet werden. Und wir werden keine Ruhe geben, bis aus Gorbatschows Traum vom Europäischen Haus Wirklichkeit wird."
Die taz hat am 22.6.16 ein Interview mit Erhard Eppler über seine Erinnerungen a den Beginn des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion veröffentlicht.
Das politische Kulturmagazin Die Gazette hat in seiner kürzlich erschienenen Ausgabe 50 eine Analyse Erhard Epplers über "Die verkannte Demütigung der Russen" veröffentlicht. Das Heft ist im gut sortierten Zeitschriftenhandel zu bekommen.
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