Die internationale
Ärzteorganisation IPPNW hat den völkerrechtswidrigen US-Luftschlag gegen
Syrien verurteilt und gegen die deutsche Reaktion protestiert. Sie
warnt vor den Folgen und kritisiert unbewiesene Behauptungen über
Chemiewaffen. Jens-Peter Steffen von der deutschen Sektion der IPPNW
erklärt im Sputnik-Gespräch die Gründe.
Herr
Steffen, am 4. April gab es bei Idlib in Syrien einen mutmaßlichen
Chemiewaffeneinsatz. Inzwischen wurde als Reaktion darauf eine syrische
Luftwaffenbasis von US-Marschflugkörpern angegriffen, auf Befehl des
US-Präsidenten Donald Trump. Die IPPNW hat inzwischen dagegen
protestiert. Warum?
Es gibt da zwei Dimensionen: Zum ersten ist für uns immer noch nicht
verlässlich festgestellt, was in Bezug auf die Giftgasfreisetzung
passiert ist. Ist es ein Angriff gewesen? Ist es eine
Bombardierung
von gelagerten Stoffen gewesen? Die andere Dimension ist natürlich,
dass wir diesen Angriff der knapp 60 „Tomahawk“-Raketen als einen
Verstoß gegen das Völkerrecht einschätzen.
Zu dem mutmaßlichen Auslöser: Es ist bis heute nicht genau
bekannt, was da gesehen ist. Nun beruft sich aber die Politik darauf,
dass sie wisse, was los ist, sie wisse, wer schuld sei. Wie lässt sich
das einschätzen? Es wird sich auch darauf berufen, dass Vertreter von
„Ärzte ohne Grenzen“ vor Ort Symptome festgestellt hätten, die auf einen
Chemiewaffeneinsatz hindeuten.
Es gibt die Hinweise durch den Zustand der Patienten, dass es eine
Freisetzung von Giftgas gegeben hat. Aber das klärt ja noch nicht, ob es
willentlich eingesetzt worden ist, oder ob gebilligt wurde, dass eine
Anlage bombardiert wurde, in der diese Gifte freigesetzt wurden. Die
erste Forderung von uns ist deshalb, dass international durch die
Kommissionen, die es gibt und auch schon eingesetzt sind nach der
Chemiewaffenkonvention, eine Untersuchung gibt, bevor solche
Behauptungen aufgestellt werden. Wenn es Informationen gibt, dann wissen
wir alle, Sie so gut wie ich, dass diejenigen, die sie behaupten, uns
die Belege keineswegs vorführen. So lange diese Untersuchung nicht
erfolgt ist und abgeschlossen und ausgewertet ist, ist eine
vorauseilende Reaktion, auch noch eine mit einem dermaßen tödlichen
Ausmaß wie der Raketenangriff durch die US-Amerikaner, die falsche
Reaktion.
Nun ist die IPPNW ja selber eine Ärzteorganisation. Diese
ganze Geschichte beruht auf den Aussagen von Ärzten. Viele versuchen nun
von außen aus, zu beurteilen: Was ist da geschehen? Gibt es überhaupt
eine Chance, ohne eine wahrscheinlich langwierige Untersuchung vor Ort
herauszufinden oder zu erklären, was passiert ist? Selbst der
Chemiewaffenexperte Ralf Trapp hat gestern im Radio erklärt: Symptome
deuten darauf hin, man müsse erst klären und herausfinden, „was es denn
für ein Kampfstoff gewesen ist, wenn es ein Kampfstoff war“. Warum sagen
so viele bis hin zur Politik: „Wir wissen, was da passiert ist?“
Weil es gewisse politische Opportunitäten und Gegnerschaften gibt,
die wir ja alle kennen. Das ist ja das Desaster an diesem Konflikt und
Krieg in Syrien, dass er über die Jahre zu einem extremen
Stellvertreter-Krieg geworden ist. Es kann aber auf der anderen Seite
doch kein Problem sein, wenn es diese Übereinstimmung gibt, vor Ort die
Recherche zu ermöglichen, mit den nötigen Mitteln und dem nötigen
Personal, das auch entsprechend geschult ist, in möglichst kurzer Zeit
zu Schlussfolgerungen zu kommen – anstatt Vermutungen zu Wahrheiten
aufzubauschen oder womöglich zu „alternative Facts“, wie Neusprech es
heute auch gern bezeichnet.
Ihre Organisation warnt vor den Folgen des US-Luftschlages
gegen Syrien. Wo sehen Sie die Gefahren? Es gab lange Zeit Hoffnung auf
Entspannung und auch, dass es zu einer politischen Lösung des Konfliktes
in Syrien kommt, auch in Folge der Wahl in den USA. Nun sieht wieder
alles ganz anders aus, als wenn es eine Rückkehr zu der alten
Kriegspolitik gibt.
Wir hatten kein großes Vertrauen in eine sogenannte neue Ostpolitik
der Trump-Administration. Es ist traurig, dass wir auf diese Art und
Weise bestätigt worden sind. Es ist natürlich zu befürchten, dass jetzt
wirklich alle Gespräche, die Genfer Gespräche oder ähnliches, gefährdet
sind. Dass Organisationen oder Vertreter von Kombattanten, die dort
eigentlich mit am Tische sitzen müssten, jetzt sagen werden: Unter
diesen Umständen tun wir es nicht mehr – und natürlich sich auch noch
bestätigt fühlen können durch diese Überreaktion der US-Administration.
Absolut notwendig ist aus unserer Sicht, Waffenstillstände zu fördern,
Verhandlungen für einen allgemeinen Waffenstillstand zu fördern, um das
zu verfestigen und den entsprechenden Wiederaufbau erlauben zu können
und darüber zu sprechen, dass die Sanktionen gegenüber Syrien
zurückgefahren werden so dass das Land sich auch aus der eigenen
Leistung heraus wieder entwickeln kann, dass die von der jüngsten
„Geber“-Konferenz beschlossenen Hilfsmittel wirklich sinnvoll eingesetzt
werden können … Es ist einfach zu befürchten, dass diese Eskalation,
vor der wir jetzt stehen, alles kaputt machen wird.
Die Bundeskanzlerin hat erklärt, dass sie das Vorgehen der
USA unterstützt. Sie sei auch vorab informiert gewesen. Was fordert Ihre
Organisation von der Bundesregierung?
Als Erstes wäre das natürlich die Unterstützung unserer
Vorstellungen: Waffenstillstände und internationale Verhandlungen weiter
zu fördern und sie nicht durch militärische Einsätze weiter zu
torpedieren. Das Thema der Sanktionen müsste auf den Tisch, ebenso das
Ende der Beteiligung der Bundeswehr am Anti-IS-Einsatz, den wir auch für
falsch halten. Ganz wichtig ist sicherlich ein Stopp von
Rüstungsexporten in die Großregion. Der Syrien-Konflikt ist ja die
Spitze des Eisbergs im Nahen und Mittleren Osten, einer Region, die
voller kriegerischer und gewalttätiger Konflikte ist. Da gibt es einen
ganzen Katalog, den wir an dieser Stelle und aus diesem Anlass leider
wieder erneuern müssen.
Nochmal zu den angeblichen Belegen für einen
Chemiewaffeneinsatz: Es gibt Videos und Fotos von den mutmaßlichen
Opfern der freigesetzten chemischen Stoffe. Lässt sich das aus der Ferne
nur anhand von Fotos beurteilen, was da gewesen sein soll und welchen
Stoffen die Patienten ausgesetzt worden sind? Würde das ein Arzt machen?
Eine solche Ferndiagnose halte ich für äußerst fraglich. Es gibt
natürlich bei bestimmten Augenleiden oder bei der Schaumentwicklung vorm
Mund bestimmte Hinweise. Aber ein professionelles Handeln würde
bedeuten, dass man in der Identifikation der Ursachen dann tiefer geht.
Wir haben die Erfahrung, dass zum Beispiel im Golf-Krieg die
Bombardierung von Erdölquellen und die schweren Brände und die
Umweltbelastungen, die es dort gegeben hat, auch zu Folgeerscheinungen
bei Mensch, Tier und Umwelt geführt haben. Der Kurzschluss jetzt ist,
dass behauptet wird, dass eine Seite definitiv solche Waffen eingesetzt
hat. Die Belege dafür haben wir noch nicht. Es kann ja so gewesen sein.
Aber es gibt nach meiner Kenntnis keine Belege dafür, dass es wirklich
so gewesen ist. Und eine Bombardierung von irgendwelchen Anlagen,
in denen zum Beispiel auch Giftstoffe gelagert oder entsorgt werden,
würde die natürlich auch freisetzen. Das ist ja auch alles denkbar.
So dass es die gleichen Folgen hätte, wenn ungeschützte Zivilisten davon betroffen sind …
Selbstverständlich. Wenn die Freisetzung passiert, wenn die
Windrichtung entsprechend wäre. Das macht das alles nicht besser! Diese
Menschen haben ganz offensichtlich elend gelitten. Aber aus der
Ferndiagnose darauf zu schließen, dass man weiß, was die Ursachen waren
und wie sind diese Wirkungen erzeugt worden, das halten wir für sehr
unredlich. Deswegen die Forderung des Einsatzes der entsprechenden
UN-Unterorganisationen und der Fachleute, die darauf ausgebildet sind.
Für die muss es natürlich die entsprechende Sicherheit geben. Das muss
möglichst schnell passieren. Dann wird es Ergebnisse geben, die
sicherlich auch nicht jedem und jeder Seite passen werden, aber die
etwas anderes sind als diese Schlussfolgerung aufgrund von Indizien oder
Vermutungen oder von Informationen, die uns als Öffentlichkeit nicht
vorgestellt werden.
Interview: Tilo Gräser
Die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) online:
https://www.ippnw.de
Quelle:
Sputniknews, 7. April 2017
Übernommen mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion von Sputniknews