Nachdenkliches zu den jüngsten Ereignissen in der Türkei
Niemand habe mit dem Putschversuch in der Türkei am 15. Juli gerechnet, erklärte der deutsche Islam-Wissenschaftler und „Türkei-Experte“ Udo Steinbach im online am 17. Juli veröffentlichten Interview mit dem Schweizer Tages-Anzeiger. Wenn das ernst gemeint ist, dann ist Steinbach alles, bloß kein „Experte“, oder irgendwas ist auch an diesen Ereignissen nicht so, wie sie uns dargestellt werden.
Als ich am Abend des 15. Juli die ersten Nachrichten vom Putschversuch in der Türkei bekam, war ich erstaunt. Aber nicht vom Ereignis selber, sondern davon, dass vor nicht allzu langer Zeit mindestens in einem deutschen Medium eine solche Möglichkeit beschrieben wurde. Elektrisiert erinnerte ich mich an das Titelbild der Frankfurter Allgemeinen Woche vom 27. Mai, das seit dem Erscheinen auf meinem Schreibtisch lag. Auf diesem war unter anderem zu lesen: „Türkei: Die Armee könnte Erdogan bremsen“. Ich hatte die Ankündigung des entsprechenden Beitrages interessiert zur Kenntnis genommen, den Text von FAZ-Redakteur Rainer Herrmann aber leider bis zum 15. Juli noch nicht gelesen. Das holte ich dann in der Nacht des Putschversuches nach. Die Ankündigung auf dem Titel hatte mich u.a. an die vorherigen Putsche in der Türkei denken lassen und mich auch an die Ereignisse in Ägypten erinnert, als die dortige Armee im Juli 2013 den demokratisch gewählten islamistischen Präsidenten Mohamed Mursi aus dem Amt putschte.
Bei den Nachrichten aus der Türkei wurde ich erneut daran erinnert und fragte mich, wer wohl diesmal das dachte, was vor drei Jahren im Fall Ägypten in der Süddeutschen Zeitung zu lesen war: „Warum der Militärputsch notwendig war“. Heute, wo der Putschversuch vom 15. Juli endgültig als gescheitert anzusehen ist und sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan als Held darstellt, der nun aufräumen werde, will natürlich niemand der üblichen Verdächtigen auch im Westen jemals so etwas gedacht haben. Deshalb lohnt sich immer noch ein Blick in den Beitrag von Herrmann in der Frankfurter Allgemeinen Woche vom 27. Mai. Der Autor berichtete darin von anhaltenden Putschgerüchten in der Türkei und: „Viele hoffen auf ein Eingreifen der Armee, um den Präsidenten zu bremsen“. Laut Herrmann sei die Haltung der Armee gegenüber Erdogan rätselhaft: „Ist es dem allmächtigen Staatspräsidenten gelungen, die Armee als potentielle Gefahr für seine Herrschaft auszuschalten – oder nicht?“ Die Antwort sei wichtig geworden, seitdem Erdogan immer mehr Macht in seinen Händen konzentrierte und wichtige Elemente der Demokratie, sowohl die Legislative, das Parlament, als auch die Judikative, die Justiz, ausgeschaltet habe. Der Autor schrieb auch davon, dass „nicht nur in der Türkei selbst“ die Frage gestellt werde, ob die Armee „die letzte Kontrollinstanz ist, um den Staatspräsidenten in die Schranken zu weisen“. Die Gerüchte würden nicht verstummen, so Herrmann noch im Mai, „dass unzufriedene Offiziere wieder putschen und die Macht übernehmen könnten“. Zwar habe Erdogan über Entlassungen und Gerichtsverfahren gegen hohe Militärs wegen angeblicher Putschpläne die Militärführung neutralisiert und auf seine Seite gebracht. Doch das Unbehagen bei den Uniformierten gegenüber dem Präsidenten sei geblieben, was auch die Sympathien entlassener hoher Militärs für die Gezi-Proteste und die gegen die Islamisierung aufbegehrende Jugend in den Städten zeige. „Zuletzt kursierten in regierungskritischen Medien Ende März fiebrige Spekulationen über mögliche Putschpläne, hinter denen kein geringerer als der amerikanische Präsident Barack Obama stehe.“ Auch habe ein ehemaliger türkischer Offizier kurz danach im Wall Street Journal erklärt, dass die Armee als einzige Institution Erdogan bremsen könne und unter anderem einen türkischen Einmarsch in Syrien verhindert habe. Herrmann beschrieb bei allen Zweifeln an den Gerüchten ein mögliches Szenario, „das abermals zu einem Eingreifen der Armee führt, denn die Türkei ist von Terror bedroht, durch den ‚Islamischen Staat‘ und die kurdische PKK.“ 1980 habe die Armee interveniert, „um der Gewalt auf den Straßen ein Ende zu setzen“, und 1960, 1971 und 1997 um die Republik Atatürks wiederherzustellen. „Auch das ist heute nicht auszuschließen, sollte Erdogan versuchen, die Republik, die 2023 ihren 100. Geburtstag feiert, weiter zu islamisieren.“
Doch der mutmaßliche Versuch dazu kurze Zeit nach Herrmanns Beitrag scheiterte nun und Erdogan stellt sich in der Folge als Retter der Nation dar und diffamiert die Putschisten unter anderem damit, dass sie die Waffen gegen das türkisch Volk erhoben hätten, „gegen deine Mutter und deinen Vater“. Als ich das im Radio in der Übersetzung seiner Rede nach dem Putschversuch hörte, musste ich abschalten, weil mir bei solcher Demagogie speiübel wird. Über die tatsächlichen Hintergründe der Ereignisse vom 15. Juli kann natürlich nur spekuliert werden. Interessant finde ich den Hinweis von „Türkei-Experte“ Steinbach, dass der Putschversuch „ganz offensichtlich von niederrangigen Offizieren“ ausgegangen und die aktuelle Militärführung nicht involviert gewesen sei. Vielleicht haben die Putschisten einen Faktor unterschätzt, der beispielsweise 1980 eine Rolle spielte und auf den der deutsche Islam-Wissenschaftler im Tages-Anzeiger-Interview ebenfalls hinwies: „Damals hat die Armee geschlossen die Macht übernommen – nach vorheriger Absprache mit den Nato-Verbündeten. Man war froh, dass die Militärs eingreifen und das Land vor dem Verfall retten.“ Vielleicht haben die „niederrangigen“ Putsch-Militärs die internationale Kritik an Erdogans Politik überbewertet und missverstanden. Das Titelbild der Juli-Ausgabe der deutschen Zeitschrift Konkret konnten sie sicher nicht kennen: Darauf Erdogan als „Unser Mann am Bosporus“ mit der Unterzeile „Die deutschen Deals mit der Türkei“. Sie haben wahrscheinlich nicht klar gesehen, wie willkommen den führenden westlichen Mächten die Politik Erdogans im Nahen Osten tatsächlich zu sein scheint, auch nicht, dass die westliche Kritik an der undemokratischen Politik des türkischen Präsidenten im Inneren nur „Opium fürs Volk“ ist. Was kümmerte die Herrschenden und Mächtigen des Westens jemals die Demokratie, wenn sie ihre Interessen gefährdet sahen? Auch deshalb wird mir bei den aktuellen westlichen Erklärungen zum Putschversuch in der Türkei ebenfalls speiübel.
Zu den Ergebnissen der Ereignisse vom 15. Juli gehört neben vielen Todesopfern und einem Rachefeldzug der unbesiegt Gebliebenen das Gegenteil des Angestrebten: „Erdogan wirkt wie eine Heldenfigur, die gegen den Putschversuch einen Sieg der Demokratie erstritten hat.“ Das erklärte der türkische regierungskritische Journalist Baris Ince ebenfalls in einem ebenfalls vom Schweizer Tages-Anzeiger am 17. Juli online veröffentlichten Interview. Erdogan habe nun „freies Spiel“, meinte Ince und ergänzte: „So wurden bereits zahlreiche Richter und Teile der Sicherheitskräfte verhaftet, mit der Begründung, den Aufstand unterstützt zu haben.“ „Erdogan wird jetzt noch entschlossener gegen seine Kritiker und Gegner vorgehen“, erklärte der der Istanbuler Politologe Can Büyükbay gegenüber dem Tages-Anzeiger am 16. Juli. „So wird er die Armee säubern. Die Armee, die sich als Hüterin einer laizistischen Staatsordnung sieht, verliert endgültig ihre Position als Gegenmacht.“ Für Büyükbay handelte es sich beim dem schlecht organisierten Putschversuch um einen Teil des Machtkampfes zwischen Erdogan und dem in den USA lebenden islamistischen Prediger Fethullah Gülen. Letzterem stünden einige der gescheiterten Putschisten nahe. „Das ist auch die Ansicht der meisten Politanalysten und -kommentatoren – obwohl die Gülen-Bewegung betont, dass sie nichts mit dem Putsch zu tun. Warum es gerade jetzt zum Umsturzversuch gekommen ist, ist allerdings unklar.“
Eine andere mögliche Erklärung lieferte ein Beitrag der FAZ, online veröffentlicht am 16. Juli. Darin berichtete Yasemin Ergin aus Istanbul und zitierte den Kellner einer Hotelbar: „Das ist doch alles geplant, und morgen ist der Putsch dann vorbei und er führt das Präsidialsystem ein.“ Das habe sie mehrfach gehört, und: „Immer wieder hört man Menschen darüber diskutieren, dass die Bilder von den Demonstranten, die auf Panzer klettern, zu perfekt inszeniert wirken, dass Staatspräsident Erdogan, der von einem sicheren Ort aus das Volk zum Marsch auf die Straßen aufruft, zu gut vorbereitet wirkt.“ Die Proteste gegen den Putschversuch seien orchestriert, sagte der regierungskritische Journalist Ince auch gegenüber dem Tages-Anzeiger.
Putsch-Prophet Herrmann meinte übrigens in der Online-Ausgabe der FAZ vom 16. Juli zum gescheiterten Putsch-Versuch, dass dabei „eine Menge Fehler“ gemacht worden seien, weshalb er scheitern habe müssen: „In der Nacht auf Samstag deutete jedoch vieles schon früh darauf hin, dass dieser Versuch nicht generalstabsmäßig geplant sein konnte und daher scheitern musste.“ Das Vorgehen der Putschisten „war … derart plump, dass es Zweifel an der Professionalität der zweitgrößten Armee der Nato weckte.“ Und Herrmann meinte: „Ein entscheidender Unterschied zu früheren Coups ist zudem, dass in der türkischen Gesellschaft kaum jemand Partei für die Putschisten ergriffen hat.“ Und fügte hinzu: „Nie aber haben die Generäle das Land demokratischer und freier gemacht. Groß bleibt daher der Zweifel an den politischen Absichten und Zielen der Armee.“ Ohne Hinweis auf seinen Beitrag vom 27. Mai schrieb der Autor nun: „Zivile Fachleute in Ankara, die sich mit der türkischen Armee auskennen, bestätigen seit Monaten, dass die Unzufriedenheit in der Armee zunehme. Wiederholt hatte das Wort von einer möglichen bevorstehenden ‚Meuterei‘ die Runde gemacht, nicht aber von einem Putschversuch. Der Generalstab sah sich denn auch zu einer Erklärung veranlasst, dass in der Türkei kein Coup mehr stattfinden könne.“
Wie auch immer: Auch der Westen dürfte damit zufrieden sein, denn der vermeintliche Widerstand in der Bevölkerung gegen den Putschversuch zeigt ja die anscheinende Unterstützung für "unseren Mann am Bosporus" Erdogan. Wer will dagegen schon was sagen und noch daran zweifeln, dass in der Türkei am Ende alles demokratisch, also vermeintlich vom Volk gewollt, zugeht? Damit dürften es auch Kritiker der westlichen Unterstützung für Erdogan schwerer haben. Obama, Merkel und wie sie alle heißen, werden die Politik des türkischen Präsidenten sicher weiter unterstützen. Nur manchmal werden sie ihn vielleicht doch wieder an 1980 erinnern … Die Frage, wem der Putschversuch vom 15. Juli tatsächlich nützte, bleibt weiter zu stellen, aber auch die der Süddeutschen Zeitung von vor drei Jahren, ob ein Militärputsch manchmal notwendig sein kann. Wer darüber redet, sollte Beispiele wie die „Nelken-Revolution“ 1974 in Portugal, als Soldaten der "Bewegung der Streitkräfte", der Movimento das Forças Armadas (MFA), das faschistische Salazar-Regime stürzten, nicht außer acht lassen. Aber die Zeit des damaligen Aufbruches in Portugal währte nur kurz, was auch nicht vergessen werden darf. Die dafür sorgten, setzen auch heute wieder und weiter ihre Interessen durch, nach allen Regeln der Demokratie, aber wenn nötig auch mit Putsch und Diktatur und auch mit Islamisten.
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