"Der Westen – dein Freund und Helfer
Zum fünften Jahrestag der Gründung des slawischen Dreibundes fand am Runden Tisch der Moskauer Gorbatschow-Stiftung eine Diskussion statt. … Aus dem ausführlichen Bericht der ‚Nesawissimaja Gaseta‘ lassen sich zwei dominante Positionen ablesen: Fatalismus und Vorwürfe. Einige angesehene Demokraten der Gorbatschow-Ära hielten die Auflösung der Sowjetunion für unvermeidbar. Sie teilten die im Westen populäre Auffassung, wonach – wie alle Imperien in der Geschichte – auch das letzte Vielvölkerreich untergehen mußte. …
Andere Diskussionsteilnehmer wandten sich gegen einen wie auch immer gearteten Determinismus. Sie argumentierten nach dem Motto: ‚Männer machen Geschichte‘ – und tragen die Verantwortung. Diese Position war nicht nur von Nostalgikern zu hören, sondern auch von bekannten Reformern aus der Gorbatschow-Ära wie Gawriil Popow. Der frühere Oberbürgermeister Moskaus sprach den Vorwurf aus, der Westen habe den Zerfall der UdSSR gewollt. Er nannte die Handvoll Männer, die den Sowjetstaat zerstörten, Agenten des Westens. …
Männer wie Popow bezeichneten die Konsequenzen des Zerfalls mit einem Wort: Katastrophe. Die Auflösung der Sowjetunion verlief in der Tat keineswegs so friedlich, wie westliche Kommentatoren immer wieder betonten. Bürgerkriege und ethnische Konflikte forderten in Zentralasien und im Kaukasus insgesamt mehr als 100.000 Todesopfer und trieben noch weit mehr Flüchtlinge ins Elend. Die globale Bilanz der Gorbatschow-Runde lautete: In der Weltpolitik wurde die Machtbalance zerstört. Die Vereinigten Staaten konnten im Süden der ehemaligen Sowjetunion geopolitische Gewinne erzielen. Der Einfluß Rußlands wurde so weit zurückgedrängt, daß seine sicherheitspolitischen Interessen ernsthaft in Gefahr gerieten.
Im Westen sind die militärische Überlastung, die zentralistische Bürokratie und der technologische Rückstand immer wieder als Hauptgründe des Zusammenbruchs angeführt worden. Manche Autoren preisen schlicht den Siegeszug von Demokratie und Globalisierung. Ein konzeptionell überzeugendes Erklärungsmodell steht noch aus. Walter Laquer meinte bereits im Jahre 1993, daß ähnlich wie im Falle des Römischen Reiches sich der Zerfall nicht zwingend erklären lasse. Daher werde jeder Versuch, die Ursachen in einer bestimmten Krise zu sehen – wie zum Beispiel in der Wirtschaft oder in der Nationalitätenpolitik –, mit gewichtigen Gegenargumenten zu kämpfen haben.
… In einem … strukturellen Niedergangsszenario gibt es allerdings keinen Platz für Fragen nach Fehlern und äußerer Einmischung.
Gorbatschow … unterschätzte … das destruktive Potential der Funktionärsclique auf Republiks- und Gebietsebene, weil er deren Machtbasis und kulturelle Hintergründe nicht verstand. Hinter der Fassade der zentralen Lenkung konnten die regionalen Machteliten jahrzehntelang eine quasi-autonome Interessenpolitik betreiben. Die leitenden Partei- und Wirtschaftsfunktionäre bildeten auf regionaler Ebene eine Art ‚Groß-Familie‘, ein Netzwerk, das es nicht für nötig hielt, sich um gesamtstaatliche Angelegenheiten zu kümmern.
Das Problem begann, als die Fassade der zentralen Lenkung zusammenbrach, weil Michail Gorbatschow mit der Entmilitarisierung von Wirtschaft und Gesellschaft ernst machte. Es war nicht mehr nötig – und auch nicht mehr möglich –, ein hierarchisches System aufrechtzuerhalten, das nur auf ein Ziel ausgerichtet war: auf den Rüstungswettbewerb mit den USA. Die politische und ökonomische Zersplitterung nahm ihren Lauf. Gorbatschow konnte die Interessengruppen nicht mehr auf das staatliche Gesamtinteresse verpflichten. Er vermochte nicht einmal, die Minister seiner Regierung und die Führungseliten der Republiken von der Notwendigkeit seines Handelns zu überzeugen. Allerdings versuchte er es auch nicht ernsthaft. Viele hochrangige Funktionäre beklagten noch Jahre später, daß der Staats- und Parteichef nur in einem kleinen Kreis – und im Westen – Rat und Unterstützung gesucht habe. …
Die Desintegration ist nicht nur auf Gorbatschows Versäumnisse zurückzuführen. Die Kombination aus Glasnost und wirtschaftlichem Niedergang zerstörte das Mythen-, Glaubens- und Wertesystem und damit das Fundament, das jede Gesellschaft zusammenhält. In der Sowjetunion vollzog sich unter dem Mythos des Plans die Mobilisierung der Ressourcen zum Zwecke der staatlichen Herrschaft. Dabei war Wachstum das Hauptziel, nicht Verteilung. Als dann 1989/90 vor den Wachstumsraten ein Minuszeichen stand und die Versorgung schlechter wurde, brach der Verteilungskampf um so heftiger aus. Ethnische Bevölkerungsgruppen suchten nach Sündenböcken für die Misere und wollten ihren Status im vertikalen föderativen System verbessern. Alte Ressentiments gegen andere Nationalitäten brachen auf. Haß, Hysterie und Hybris bestimmten das Verhältnis … Die nationalistische Propaganda stellte die tatsächlichen und vermeintlichen Diskriminierungen in den Vordergrund. Jede Republik und jede Region fühlte sich im Nachteil – und vom Zentrum ungerecht behandelt.
In den Republiken formierte sich eine merkwürdige Interessengemeinschaft aus Opportunisten in der kommunistischen Führung und gebildeten Aufsteigern aus der breiteren Bevölkerung. Diese ‚neue Klasse‘ profilierte sich in nationalen Bewegungen, in militanten Aktionen und in legalen Wahlkämpfen. Sie nutzte die Unzufriedenheit der Bevölkerung im eigenen Machtinteresse. Glasnost steigerte den Unmut breiter Schichten. … Viele, die vorher mit ihrem Lebensstandard relativ zufrieden gewesen waren, verglichen jetzt ihre Lebenschancen mit denen im Westen. Der Mythos von der Überlegenheit des sozialistischen Systems platzte wie eine Seifenblase. An seine Stelle trat der Mythos des Marktes.
Die Unionsrepubliken machten sich ein eigenes Bild über ihre Chancen, schnell zu Wohlstand zu kommen. Oft war es ein Trugbild, wie das Beispiel der Ukraine zeigt. Auch andere Republiken entwickelten viel Phantasie und malten sich eine strahlende Zukunft aus. … Alle wollten über Bodenschätze, Transportwege und Westkontakte souverän verfügen, niemand wollte aber seine Gewinne mit den Nachbarn oder mit einer zentralen Macht teilen, vor allem die reichen Republiken nicht. … Alexander Solschenizyn … forderte von seinem Exil in den USA den möglichst schnellen Verzicht auf Zentralasien und den Kaukasus. Boris Jelzin sorgte für die schnelle Verbreitung des Appells. Der mit Abstand wichtigste Nettozahler der Föderation, die RSFSR, kündigte dann auch den Finanzausgleich auf.
Das Zentrum war nicht in der Lage, die brüchig gewordene Solidarität zwischen Arm und Reich zu kitten und die zentrifugalen Kräfte zu bändigen. … Derweil verschärften sich infolge der eingeleiteten Deregulierung die sozialen und regionalen Differenzen erheblich. Auf diese Konflikte und Konsequenzen war Gorbatschow nicht vorbereitet. … Nachdem die Polarisierung zwischen Sowjetpatrioten und Separatisten sich dramatisch zugespitzt hatte, versuchte Gorbatschow die Situation mit einer Doppelstrategie zu meistern: In seiner Innenpolitik näherte er sich den Konservativen an; in seiner Außenpolitik den kapitalistischen Mächten. Aber er war weder ein Machiavellist noch mit der Geschichte des Kalten Krieges hinreichend vertraut. Sowohl die Konservativen in Moskau als auch die strategischen Gegenspieler in Washington konnten diese Schwächen nutzen.
Gorbatschow hoffte, daß seine Ankündigung vor der UNO Ende 1988, die Rote Armee um eine halbe Million Mann zu reduzieren und einen Teil der Truppen aus der DDR, der Tschechoslowakei und aus Ungarn abzuziehen, den Westen bewegen würde, die Demilitarisierung und Transformation der Sowjetwirtschaft zu unterstützen. Aber weder mit einseitigen Gesten noch mit internationalen Abrüstungsvereinbarungen konnte er die amerikanische Roll-back-Politik überwinden. Nach Auffassung des stellvertretenden und geschäftsführenden CIA-Direktors, Robert Michael Gates, nutzte Moskau das Thema Abrüstung nur aus, um den Westen zu schwächen. Das US-Außenministerium neigte zwar dazu, Moskaus Interesse an der Abrüstung zu akzeptieren, aber das Verteidigungsministerium beharrte auf seiner Interpretation, daß Gorbatschows Entgegenkommen schlicht der wirtschaftlichen Not entsprang. …
Gorbatschows Verhandlungsbasis schrumpfte noch weiter, als in Osteuropa ein Regime nach dem anderen stürzte. Im Westen rechnete man damit, daß die nationalistischen Bewegungen innerhalb der Sowjetunion einen großen Auftrieb erhielten.
Als Gorbatschows Alliierte aus dem sowjetischen Sicherheitsapparat versucht hatten, den nationalistischen Bestrebungen im Baltikum mit Gewalt ein Ende zu setzen, gab es einen neuen Grund für den Westen, der UdSSR materielle Hilfen zu verweigern. …
Seit dem Herbst 1990 ging es Gorbatschow weniger um den Erfolg von Reformen als um die Erschließung neuer Kreditquellen zur Abwendung der drohenden Zahlungsunfähigkeit und des Zerfalls der UdSSR. … doch letztlich führten alle Wege nach Washington. Die USA hatten ihren Führungsanspruch im Umgang mit der UdSSR auf der ganzen Front bekräftigt und in der Regel durchgesetzt. … Bis auf die Bewilligung neuer Kredite für Getreideimporte aus den USA unterschied sich die Politik Washingtons gegenüber Moskaus Kreditwünschen am Ende des Kalten Krieges nicht grundlegend von jener der Truman-Administration zu dessen Beginn.
Worauf es Washington vor allem ankam, hielten zwei prominente Harvard-Professoren mit Blick auf den Weltwirtschaftsgipfel in London Mitte Juli 1991 fest: Was auch immer Gorbatschow zwischen 1985 und 1991 im Interesse des Westens geleistet haben mochte, die aktuelle Politik der USA gegenüber der Sowjetunion könne nicht mit Moskaus früheren Verdiensten begründet werden. Sie müsse sich vielmehr an der Frage orientieren, welche wichtigen US-Interessen betroffen seien. Als Grundregel postulierten Allison und Blackwill: Die amerikanische Politik gegenüber der UdSSR habe künftig ebenso hart und subtil zu sein wie während des Kalten Krieges. ..."
Fortsetzung folgt
→ Teil 2
Mária Huber: "Moskau, 11. März 1985 – Die Auflösung des sowjetischen Imperiums"
Deutscher Taschenbuch Verlag 2002 (Reihe "20 Tage im 20. Jahrhundert")
siehe auch das Telepolis-Interview mit Mária Huber vom 31.7.14 über die US-Einflussnahme in der Ukraine
Mária Huber: "Moskau, 11. März 1985 – Die Auflösung des sowjetischen Imperiums"
Deutscher Taschenbuch Verlag 2002 (Reihe "20 Tage im 20. Jahrhundert")
siehe auch das Telepolis-Interview mit Mária Huber vom 31.7.14 über die US-Einflussnahme in der Ukraine
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