Der Ex-Präsident der Sowjetunion, Michail
Gorbatschow, sieht die Anfänge des jetzigen Ukraine-Konfliktes noch in
den Perestroika-Zeiten, meldete das russische Nachrichtenportal Sputnik am 20.3.15.
"Dabei wirft der 84-jährige Friedensnobelpreisträger dem Westen vor,
sich über die Interessen Russlands „demonstrativ“ hinweggesetzt zu
haben.
„Die Hauptursachen für den Ukraine-Konflikt sind das Scheitern der Perestroika und die verantwortungslosen Entscheidungen, die die damaligen Leiter Russlands, der Ukraine und Weißrusslands im Belowescher Wald getroffen haben“, schrieb Gorbatschow in einem Beitrag in der russischen Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta. Im Dezember 1991 hatten sich die Chefs der drei Sowjetrepubliken im Belowescher Wald getroffen und ein Ende der Sowjetunion angekündigt." (siehe auch Nachrichtenmosaik Ukraine, Folge 176)
In dem 2002 erschienenen Buch "Moskau, 11. März 1985 – Die Auflösung des sowjetischen Imperiums" der Politikwissenschaftlerin Mária Huber sind im 6. Kapitel (Seite 259 bis 290) interessante Details und Zusammenhänge zu Gorbatschows jüngsten Äußerungen finden. Huber zeigt, dass die Ursachen für den aktuellen Ukraine-Konflikt tatsächlich tiefer liegen und es um mehr als nur um vermeintliche Freiheit für die Ukrainer ging und geht. Da das Buch nur noch antiquarisch zu finden ist, gebe ich Auszüge aus dem Kapitel unter der Überschrift "Teile und herrsche" im mehreren Folgen wieder:
"Der Auflösungsprozess der UdSSR verlief parallel zur Desintegration Jugoslawiens. Für die maßgeblichen Akteure im Westen ergab sich daraus automatisch so etwas wie ein Synergieeffekt. Sie hatten nicht nur führende Persönlichkeiten, sondern auch die wirtschaftlichen Probleme beider multiethnischen Föderationen kennengelernt. Diese Erfahrungen konnten sie für ihre Interessen nutzbar machen. Eine Schlüsselfigur war dabei zweifellos Hans-Dietrich Genscher. Der deutsche Außenminister konnte wie kein anderer die Fäden ziehen, denn ihm waren die Schwächen und Nöte Michail Gorbatschows schon in den Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung nicht verborgen geblieben. Von den Aktivitäten des deutschen Vizekanzlers gingen wichtige Signale an die Mitgliedstaaten beider Föderationen aus. Trotz aller Abspaltungstendenzen gab es für ihre Unabhängigkeit erst dann eine reale Chance, wenn ihre Führungen mit internationaler Anerkennung rechnen konnten. Neben einigen formalen Kriterien spielten dabei zwei externe Faktoren eine wichtige Rolle: Die Interessenlage potentieller Fürsprecher im Westen und die internationalen Machtverhältnisse.
Genschers frühe Bereitschaft, die Abspaltung Sloweniens und Kroatiens anzuerkennen, ergab sich nicht zuletzt aus seiner Zugehörigkeit zur FDP, die freie Hand für die Interessen der Wirtschaft forderte. Die deutsche Exportindustrie suchte dringend neue Absatzmärkte in Osteuropa; doch vorerst waren die alten stark gefährdet. Auf die Wirtschaftskrise Jugoslawiens folgten erste kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Verbänden der serbisch dominierten jugoslawischen Armee und den beiden westlich-marktwirtschaftlich orientierten Republiken. Slowenien und Kroatien konnten in Deutschland aus historischen und religiösen Gründen mit Sympathien rechnen. Zudem hatten sie eine Public-Relations-Kampagne lanciert, die ihre Aktionen als ‚Kampf für Freiheit und Demokratie‘ darstellte. Beim Koalitionspartner der FDP, der CDU/CSU, erfreuten sich die Kroaten auch wegen ihrer engen Beziehungen zu Bayern und dem Vatikan besonderen Wohlwollens. Bundeskanzler Kohl argumentierte, daß nach der Wiedervereinigung auch andere Völker ein Recht auf Selbstbestimmung haben müßten. Die Slowenen und Kroaten hatten diesen Willen in einem Referendum zum Ausdruck gebracht.
Die oppositionelle SPD, die von der deutschen Vereinigung hilflos überrollt worden war, versuchte sich neu zu positionieren. Ihr außenpolitischer Sprecher, Karsten Voigt, gab Anfang 1991 seinen Mitarbeitern den Auftrag, die Konflikte in Jugoslawien zu analysieren und daraus Schlußfolgerungen für die mögliche Entwicklung in der Sowjetunion zu ziehen. Aus der Studie ging hervor, daß Jugoslawien nicht zu retten sei. Voigt startete daraufhin eine Initiative im Deutschen Bundestag: Mit der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens durch die Bundesrepublik sollte Gorbatschow signalisiert werden, daß Deutschland von ihm mehr Entgegenkommen gegenüber den baltischen Republiken und der Ukraine erwartet. Osteuropa-Spezialisten hatten schon zuvor Parallelen gesehen zwischen den Rollen, die Slowenien und Estland beziehungsweise Kroatien und die Ukraine spielten. Während die beiden westlichen Vorposten ihren Sonderweg fortgesetzt hatten, waren Kroatien und die Ukraine für den Bestand der jeweiligen Föderation lebenswichtig. Jugoslawien erschien ohne Kroatien ebenso wenig denkbar wie die Sowjetunion ohne die Ukraine.
Bis in die zweite Augusthälfte 1991 hinein hielten die meisten westeuropäischen Politiker zumindest offiziell an der Einheit Jugoslawiens fest. Die Furcht, die sowjetische Militärmacht könnte der jugoslawischen Bundesarmee gegen die abtrünnigen Republiken zu Hilfe kommen, ließ diese Zurückhaltung opportun erscheinen. Doch nach dem gescheiterten Putschversuch im August 1991 saß der sowjetische Verteidigungsminister ebenso in Haft wie der KGB-Chef. Von ihren Truppen ging keine Gefahr mehr aus. Am 22. August 1991 richtete der kroatische Präsident, Franjo Tudjman, ein Ultimatum an die jugoslawische Armee, Kroatien zu verlassen, sonst würde man sie als Okkupationstruppe betrachten. Die Drohung kam einer Kriegserklärung gleich. Zwei Tage später ließ der deutsche Außenminister den jugoslawischen Botschafter in Bonn wissen, die Bundesrepublik werde Slowenien und Kroatien anerkennen, wenn Belgrad seine militärischen Angriffe gegen die Republiken fortsetzen sollte. Am Tag darauf begann die serbische Offensive in Ostslawonien. Sie forderte allein in Vukovar mehr als 2300 Tote und Tausende von Verletzten. …
Estland, Lettland und Litauen waren bereits am 24. August 1991 von der Europäischen Gemeinschaft als souveräne Staaten anerkannt worden. Washington folgte eine gute Woche später. Die nach dem gescheiterten Putschversuch weiter geschwächte sowjetische Führung konnten den nach dem Hitler-Stalin-Pakt von der UdSSR annektierten baltischen Staaten die Zustimmung zur Unabhängigkeit nicht mehr verweigern. Seitdem haben liberal denkende russische Intellektuelle die aparte These entwickelt, an der Auflösung der Sowjetunion sei niemand anders als Stalin schuld. … Mit dieser vordergründig einleuchtenden und daher populären Erklärung klammern die liberalen Reformer die Verantwortung ihres Präsidenten, Boris Jelzin, ebenso aus wie diejenige des ukrainischen Präsidenten Leonid Krawtschuk. Nach dem Putschversuch suchten beide nur zum Schein nach einem neuen Modell für die künftige Kooperation der Unionsrepubliken, die wirtschaftlich weitaus stärker verflochten waren als die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und daher ihre volle Souveränität nur um den Preis hoher ökonomischer Verluste erlangen konnten. Mehrere bekannte Wirtschaftsfachleute mahnten, eine gemeinsame Währungs- und Wirtschaftspolitik würde allen Republiken zu einem größeren Vorteil gereichen als jeder Alleingang. Doch die Desintegration war nicht mehr zu stoppen.
Jelzin, dessen öffentliche Auftritte seit Anfang 1991 konkrete Regieanweisungen westlicher PR-Berater erkennen ließen, bekräftigte zunächst demonstrativ, daß er ‚eine wirklich freiwillige Union souveräner und gleichberechtigter Staaten‘ befürworte. … Im Stimmengewirr des heißen herbstes 1991 erweckten viele Redner den Eindruck, daß die russische Führungselite eine Ablehnung der Pläne für eine neue Föderation provozieren wollte, um nicht allein für deren Scheitern verantwortlich zu sein. …
Zwischen dem 25. August und dem 23. September 1991 erklärten sieben Unionsrepubliken … ihre Unabhängigkeit. Die reihe wurde am 24. August von der Ukraine eröffnet. Leonid Krawtschuk, der den Putsch erst nach dem Scheitern verurteilt hatte, trat an diesem Tag zugleich aus der KPdSU aus. Die Erklärung der staatlichen Unabhängigkeit durch den Obersten Sowjet in Kiew und die Absicht der Ukraine, eine eigene Armee aufzustellen, alarmierte den nach dem Putsch defensiv agierenden Präsidenten der UdSSR: ‚Ohne Ukraine kann es keine Union geben, und es kann keine Ukraine ohne die Union geben‘, appellierte Gorbatschow an die abtrünnigen Brüder. ‚Diese beiden slawischen Staaten waren für Jahrhunderte die Achse, an der sich ein riesiger multinationaler Staat entwickelte. So wird es auch bleiben.‘
Doch die ukrainische Führung ließ sich nicht mehr bremsen. Sie war entschlossen, die Achse zu zerstören. Der Oberste Sowjet erließ ein Gesetz über den Schutz ausländischer Investitionen; offenbar glaubte man, dieses Stück Papier würde reichen, um im Esten auf Wohlwollen und Wirtschaftshilfe rechnen zu können. Mit der gleichen Leichtigkeit regelten die Gesetzgeber die Frage nach dem Eigentum an den vorhandenen Produktionskapazitäten. Die ‚Nationalisierung‘ von Unionsbesitz und -behörden erfolgte ohne jegliche juristische Skrupel. Nur eine Entscheidung Moskaus stellten die ukrainischen Patrioten nicht in Frage. Die Krim – das der Ukraine von Chrustschow abgetretene und für sowjetische Verhältnisse luxuriöse Ferienparadies – galt als unantastbar. Forderungen russischer Politiker nach Grenzkorrekturen wies Kiew empört zurück.
Vor dem Referendum über den Unabhängigkeitsbeschluß des Obersten Sowjet der Ukraine räumte die Führung in Kiew der Versorgung der eigenen Bevölkerung absoluten Vorrang ein. Die Ausfuhr von Lebensmitteln nach Rußland wurde verboten. Hohe Ablieferungsquoten an den Staat ergänzten die Versorgungspolitik ganz im sowjetischen Stil. In den ‚Richtlinien für die Wirtschaftspolitik‘ ging es der Regierung nicht um ökonomische Reformen, sondern um Strategien für die Sicherung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit. Großen Beifall fand damals im Westen die Absicht, künftig Erdöl und Erdgas nicht mehr von Rußland, sondern aus Kasachstan, Turkmenistan und dem Iran zu beziehen. Woher das Geld für den Bau einer Leitung kommen sollte, fragten sich allerdings nur wenige. Unisono aber verdammte die deutsche Presse später den ‚imperialen Druck‘ Moskaus, als die russischen Energielieferanten nach marktwirtschaftlichen Gepflogenheiten auch Geld für die von ihnen erbrachten Leistungen sehen wollten. Im Herbst 1991 glaubten Vertreter des Kiewer Außenwirtschaftsministeriums daran, daß die Ukraine westliche Firmen als Rußlands Getreidelieferanten ablösen und damit die Importe selbst bezahlen könnte.
Noch einfacher erschien es, Souveränität in der Geldpolitik zu erlangen. Eine eigene Nationalbank zu gründen und eine eigene Währung einzuführen, waren Aufgaben, für die Kiew kaum eine Handvoll Fachleute hatte. Frankfurter Banker positionierten sich, um beim Aufbau des ukrainischen Zentralbanksystems entscheidend mitzuwirken. …
Unter den Bedingungen der Finanzmisere und der existenziellen Not erwartete die Mehrheit der Bevölkerung von der Unabhängigkeit die Lösung aller wirtschaftlichen Probleme und die Verbesserungen des Lebensstandards. In einer repräsentativen Umfrage von Ende September 1991 sprachen sich 61,6 Prozent der befragten dafür aus, daß Wohlstand das wichtigste Ziel der Unabhängigkeit sein sollte. Während 70 Prozent den Rückzug aus der Union unterstützten, war der explizite Wunsch nach einem Systemwechsel kaum vorhanden. Eine effektive Gewaltenteilung sahen nur 20 Prozent der Befragten als Priorität des neuen Staates an. Garantien für ein Mehrparteiensystem und für die Meinungsfreiheit hielt nur jeder zehnte für erforderlich. Die nationale Wiedergeburt und eine eigene Armee wünschten sich 13 Prozent. Von einem demokratischen Aufbruch konnte in der Ukraine keine Rede sein.
Der Oberste Sowjet begründete die ‚Fortsetzung der 1000jährigen Tradition der Staatsbildung in der Ukraine‘ durch die Verkündung der Unabhängigkeit am 24. August mit der ‚tödlichen Gefahr‘, die vom ‚staatlichen Umsturz in der UdSSR‘ ausging. Die Erklärung postulierte das Selbstbestimmungsrecht und die Unteilbarkeit des Territoriums – nicht aber Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Der Text wurde auf den Stimmzetteln des Referendums am 1. Dezember 1991 nachgedruckt.
Vier Tage vor dem Referendum versprach US-Präsident Bush die sofortige Anerkennung des ukrainischen Staates durch die Vereinigten Staaten, falls die Sowjetrepublik aufgrund der Befragung mit der UdSSR brechen würde. Mit dieser massiven Entscheidungshilfe trat er zu Beginn des amerikanischen Wahlkampfes Vorwürfen der mehrheitlich nationalistisch eingestellten ukrainischen Diaspora (sie zählte über eine Million) entgegen, die Unabhängigkeitsbestrebungen Kiews nicht energisch genug unterstützt zu haben. Kritik hatte vor allem sein Besuch in der ukrainischen Hauptstadt im Juli 1991 herausgefordert. Bush hatte damals vor einem selbstmörderischen Nationalismus gewarnt und gedroht, Amerika werde jene nicht unterstützen, die eine von außen gesteuerte Tyrannei durch einen lokalen Despotismus ersetzen wollten.
Obwohl Bush nach Auskunft seines Chefdiplomaten Strobe Talbott diese Bemerkung an die Adresse des im Mai 1991 mit 87 Prozent der Stimmen gewählten georgischen Präsidenten Swiad Gamsachurdia gerichtet hatte, der gegen ethnische Minderheiten und gegen die demokratische Opposition mit Brachialgewalt vorgegangen war, muß sie in der Fachliteratur unentwegt als Beweis dafür herhalten, daß der Westen bis zum letzten Moment bemüht gewesen sei, die Sowjetunion zu stabilisieren. ..."
→ Teil 2
„Die Hauptursachen für den Ukraine-Konflikt sind das Scheitern der Perestroika und die verantwortungslosen Entscheidungen, die die damaligen Leiter Russlands, der Ukraine und Weißrusslands im Belowescher Wald getroffen haben“, schrieb Gorbatschow in einem Beitrag in der russischen Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta. Im Dezember 1991 hatten sich die Chefs der drei Sowjetrepubliken im Belowescher Wald getroffen und ein Ende der Sowjetunion angekündigt." (siehe auch Nachrichtenmosaik Ukraine, Folge 176)
In dem 2002 erschienenen Buch "Moskau, 11. März 1985 – Die Auflösung des sowjetischen Imperiums" der Politikwissenschaftlerin Mária Huber sind im 6. Kapitel (Seite 259 bis 290) interessante Details und Zusammenhänge zu Gorbatschows jüngsten Äußerungen finden. Huber zeigt, dass die Ursachen für den aktuellen Ukraine-Konflikt tatsächlich tiefer liegen und es um mehr als nur um vermeintliche Freiheit für die Ukrainer ging und geht. Da das Buch nur noch antiquarisch zu finden ist, gebe ich Auszüge aus dem Kapitel unter der Überschrift "Teile und herrsche" im mehreren Folgen wieder:
"Der Auflösungsprozess der UdSSR verlief parallel zur Desintegration Jugoslawiens. Für die maßgeblichen Akteure im Westen ergab sich daraus automatisch so etwas wie ein Synergieeffekt. Sie hatten nicht nur führende Persönlichkeiten, sondern auch die wirtschaftlichen Probleme beider multiethnischen Föderationen kennengelernt. Diese Erfahrungen konnten sie für ihre Interessen nutzbar machen. Eine Schlüsselfigur war dabei zweifellos Hans-Dietrich Genscher. Der deutsche Außenminister konnte wie kein anderer die Fäden ziehen, denn ihm waren die Schwächen und Nöte Michail Gorbatschows schon in den Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung nicht verborgen geblieben. Von den Aktivitäten des deutschen Vizekanzlers gingen wichtige Signale an die Mitgliedstaaten beider Föderationen aus. Trotz aller Abspaltungstendenzen gab es für ihre Unabhängigkeit erst dann eine reale Chance, wenn ihre Führungen mit internationaler Anerkennung rechnen konnten. Neben einigen formalen Kriterien spielten dabei zwei externe Faktoren eine wichtige Rolle: Die Interessenlage potentieller Fürsprecher im Westen und die internationalen Machtverhältnisse.
Genschers frühe Bereitschaft, die Abspaltung Sloweniens und Kroatiens anzuerkennen, ergab sich nicht zuletzt aus seiner Zugehörigkeit zur FDP, die freie Hand für die Interessen der Wirtschaft forderte. Die deutsche Exportindustrie suchte dringend neue Absatzmärkte in Osteuropa; doch vorerst waren die alten stark gefährdet. Auf die Wirtschaftskrise Jugoslawiens folgten erste kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Verbänden der serbisch dominierten jugoslawischen Armee und den beiden westlich-marktwirtschaftlich orientierten Republiken. Slowenien und Kroatien konnten in Deutschland aus historischen und religiösen Gründen mit Sympathien rechnen. Zudem hatten sie eine Public-Relations-Kampagne lanciert, die ihre Aktionen als ‚Kampf für Freiheit und Demokratie‘ darstellte. Beim Koalitionspartner der FDP, der CDU/CSU, erfreuten sich die Kroaten auch wegen ihrer engen Beziehungen zu Bayern und dem Vatikan besonderen Wohlwollens. Bundeskanzler Kohl argumentierte, daß nach der Wiedervereinigung auch andere Völker ein Recht auf Selbstbestimmung haben müßten. Die Slowenen und Kroaten hatten diesen Willen in einem Referendum zum Ausdruck gebracht.
Die oppositionelle SPD, die von der deutschen Vereinigung hilflos überrollt worden war, versuchte sich neu zu positionieren. Ihr außenpolitischer Sprecher, Karsten Voigt, gab Anfang 1991 seinen Mitarbeitern den Auftrag, die Konflikte in Jugoslawien zu analysieren und daraus Schlußfolgerungen für die mögliche Entwicklung in der Sowjetunion zu ziehen. Aus der Studie ging hervor, daß Jugoslawien nicht zu retten sei. Voigt startete daraufhin eine Initiative im Deutschen Bundestag: Mit der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens durch die Bundesrepublik sollte Gorbatschow signalisiert werden, daß Deutschland von ihm mehr Entgegenkommen gegenüber den baltischen Republiken und der Ukraine erwartet. Osteuropa-Spezialisten hatten schon zuvor Parallelen gesehen zwischen den Rollen, die Slowenien und Estland beziehungsweise Kroatien und die Ukraine spielten. Während die beiden westlichen Vorposten ihren Sonderweg fortgesetzt hatten, waren Kroatien und die Ukraine für den Bestand der jeweiligen Föderation lebenswichtig. Jugoslawien erschien ohne Kroatien ebenso wenig denkbar wie die Sowjetunion ohne die Ukraine.
Bis in die zweite Augusthälfte 1991 hinein hielten die meisten westeuropäischen Politiker zumindest offiziell an der Einheit Jugoslawiens fest. Die Furcht, die sowjetische Militärmacht könnte der jugoslawischen Bundesarmee gegen die abtrünnigen Republiken zu Hilfe kommen, ließ diese Zurückhaltung opportun erscheinen. Doch nach dem gescheiterten Putschversuch im August 1991 saß der sowjetische Verteidigungsminister ebenso in Haft wie der KGB-Chef. Von ihren Truppen ging keine Gefahr mehr aus. Am 22. August 1991 richtete der kroatische Präsident, Franjo Tudjman, ein Ultimatum an die jugoslawische Armee, Kroatien zu verlassen, sonst würde man sie als Okkupationstruppe betrachten. Die Drohung kam einer Kriegserklärung gleich. Zwei Tage später ließ der deutsche Außenminister den jugoslawischen Botschafter in Bonn wissen, die Bundesrepublik werde Slowenien und Kroatien anerkennen, wenn Belgrad seine militärischen Angriffe gegen die Republiken fortsetzen sollte. Am Tag darauf begann die serbische Offensive in Ostslawonien. Sie forderte allein in Vukovar mehr als 2300 Tote und Tausende von Verletzten. …
Estland, Lettland und Litauen waren bereits am 24. August 1991 von der Europäischen Gemeinschaft als souveräne Staaten anerkannt worden. Washington folgte eine gute Woche später. Die nach dem gescheiterten Putschversuch weiter geschwächte sowjetische Führung konnten den nach dem Hitler-Stalin-Pakt von der UdSSR annektierten baltischen Staaten die Zustimmung zur Unabhängigkeit nicht mehr verweigern. Seitdem haben liberal denkende russische Intellektuelle die aparte These entwickelt, an der Auflösung der Sowjetunion sei niemand anders als Stalin schuld. … Mit dieser vordergründig einleuchtenden und daher populären Erklärung klammern die liberalen Reformer die Verantwortung ihres Präsidenten, Boris Jelzin, ebenso aus wie diejenige des ukrainischen Präsidenten Leonid Krawtschuk. Nach dem Putschversuch suchten beide nur zum Schein nach einem neuen Modell für die künftige Kooperation der Unionsrepubliken, die wirtschaftlich weitaus stärker verflochten waren als die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und daher ihre volle Souveränität nur um den Preis hoher ökonomischer Verluste erlangen konnten. Mehrere bekannte Wirtschaftsfachleute mahnten, eine gemeinsame Währungs- und Wirtschaftspolitik würde allen Republiken zu einem größeren Vorteil gereichen als jeder Alleingang. Doch die Desintegration war nicht mehr zu stoppen.
Jelzin, dessen öffentliche Auftritte seit Anfang 1991 konkrete Regieanweisungen westlicher PR-Berater erkennen ließen, bekräftigte zunächst demonstrativ, daß er ‚eine wirklich freiwillige Union souveräner und gleichberechtigter Staaten‘ befürworte. … Im Stimmengewirr des heißen herbstes 1991 erweckten viele Redner den Eindruck, daß die russische Führungselite eine Ablehnung der Pläne für eine neue Föderation provozieren wollte, um nicht allein für deren Scheitern verantwortlich zu sein. …
Zwischen dem 25. August und dem 23. September 1991 erklärten sieben Unionsrepubliken … ihre Unabhängigkeit. Die reihe wurde am 24. August von der Ukraine eröffnet. Leonid Krawtschuk, der den Putsch erst nach dem Scheitern verurteilt hatte, trat an diesem Tag zugleich aus der KPdSU aus. Die Erklärung der staatlichen Unabhängigkeit durch den Obersten Sowjet in Kiew und die Absicht der Ukraine, eine eigene Armee aufzustellen, alarmierte den nach dem Putsch defensiv agierenden Präsidenten der UdSSR: ‚Ohne Ukraine kann es keine Union geben, und es kann keine Ukraine ohne die Union geben‘, appellierte Gorbatschow an die abtrünnigen Brüder. ‚Diese beiden slawischen Staaten waren für Jahrhunderte die Achse, an der sich ein riesiger multinationaler Staat entwickelte. So wird es auch bleiben.‘
Doch die ukrainische Führung ließ sich nicht mehr bremsen. Sie war entschlossen, die Achse zu zerstören. Der Oberste Sowjet erließ ein Gesetz über den Schutz ausländischer Investitionen; offenbar glaubte man, dieses Stück Papier würde reichen, um im Esten auf Wohlwollen und Wirtschaftshilfe rechnen zu können. Mit der gleichen Leichtigkeit regelten die Gesetzgeber die Frage nach dem Eigentum an den vorhandenen Produktionskapazitäten. Die ‚Nationalisierung‘ von Unionsbesitz und -behörden erfolgte ohne jegliche juristische Skrupel. Nur eine Entscheidung Moskaus stellten die ukrainischen Patrioten nicht in Frage. Die Krim – das der Ukraine von Chrustschow abgetretene und für sowjetische Verhältnisse luxuriöse Ferienparadies – galt als unantastbar. Forderungen russischer Politiker nach Grenzkorrekturen wies Kiew empört zurück.
Vor dem Referendum über den Unabhängigkeitsbeschluß des Obersten Sowjet der Ukraine räumte die Führung in Kiew der Versorgung der eigenen Bevölkerung absoluten Vorrang ein. Die Ausfuhr von Lebensmitteln nach Rußland wurde verboten. Hohe Ablieferungsquoten an den Staat ergänzten die Versorgungspolitik ganz im sowjetischen Stil. In den ‚Richtlinien für die Wirtschaftspolitik‘ ging es der Regierung nicht um ökonomische Reformen, sondern um Strategien für die Sicherung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit. Großen Beifall fand damals im Westen die Absicht, künftig Erdöl und Erdgas nicht mehr von Rußland, sondern aus Kasachstan, Turkmenistan und dem Iran zu beziehen. Woher das Geld für den Bau einer Leitung kommen sollte, fragten sich allerdings nur wenige. Unisono aber verdammte die deutsche Presse später den ‚imperialen Druck‘ Moskaus, als die russischen Energielieferanten nach marktwirtschaftlichen Gepflogenheiten auch Geld für die von ihnen erbrachten Leistungen sehen wollten. Im Herbst 1991 glaubten Vertreter des Kiewer Außenwirtschaftsministeriums daran, daß die Ukraine westliche Firmen als Rußlands Getreidelieferanten ablösen und damit die Importe selbst bezahlen könnte.
Noch einfacher erschien es, Souveränität in der Geldpolitik zu erlangen. Eine eigene Nationalbank zu gründen und eine eigene Währung einzuführen, waren Aufgaben, für die Kiew kaum eine Handvoll Fachleute hatte. Frankfurter Banker positionierten sich, um beim Aufbau des ukrainischen Zentralbanksystems entscheidend mitzuwirken. …
Unter den Bedingungen der Finanzmisere und der existenziellen Not erwartete die Mehrheit der Bevölkerung von der Unabhängigkeit die Lösung aller wirtschaftlichen Probleme und die Verbesserungen des Lebensstandards. In einer repräsentativen Umfrage von Ende September 1991 sprachen sich 61,6 Prozent der befragten dafür aus, daß Wohlstand das wichtigste Ziel der Unabhängigkeit sein sollte. Während 70 Prozent den Rückzug aus der Union unterstützten, war der explizite Wunsch nach einem Systemwechsel kaum vorhanden. Eine effektive Gewaltenteilung sahen nur 20 Prozent der Befragten als Priorität des neuen Staates an. Garantien für ein Mehrparteiensystem und für die Meinungsfreiheit hielt nur jeder zehnte für erforderlich. Die nationale Wiedergeburt und eine eigene Armee wünschten sich 13 Prozent. Von einem demokratischen Aufbruch konnte in der Ukraine keine Rede sein.
Der Oberste Sowjet begründete die ‚Fortsetzung der 1000jährigen Tradition der Staatsbildung in der Ukraine‘ durch die Verkündung der Unabhängigkeit am 24. August mit der ‚tödlichen Gefahr‘, die vom ‚staatlichen Umsturz in der UdSSR‘ ausging. Die Erklärung postulierte das Selbstbestimmungsrecht und die Unteilbarkeit des Territoriums – nicht aber Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Der Text wurde auf den Stimmzetteln des Referendums am 1. Dezember 1991 nachgedruckt.
Vier Tage vor dem Referendum versprach US-Präsident Bush die sofortige Anerkennung des ukrainischen Staates durch die Vereinigten Staaten, falls die Sowjetrepublik aufgrund der Befragung mit der UdSSR brechen würde. Mit dieser massiven Entscheidungshilfe trat er zu Beginn des amerikanischen Wahlkampfes Vorwürfen der mehrheitlich nationalistisch eingestellten ukrainischen Diaspora (sie zählte über eine Million) entgegen, die Unabhängigkeitsbestrebungen Kiews nicht energisch genug unterstützt zu haben. Kritik hatte vor allem sein Besuch in der ukrainischen Hauptstadt im Juli 1991 herausgefordert. Bush hatte damals vor einem selbstmörderischen Nationalismus gewarnt und gedroht, Amerika werde jene nicht unterstützen, die eine von außen gesteuerte Tyrannei durch einen lokalen Despotismus ersetzen wollten.
Obwohl Bush nach Auskunft seines Chefdiplomaten Strobe Talbott diese Bemerkung an die Adresse des im Mai 1991 mit 87 Prozent der Stimmen gewählten georgischen Präsidenten Swiad Gamsachurdia gerichtet hatte, der gegen ethnische Minderheiten und gegen die demokratische Opposition mit Brachialgewalt vorgegangen war, muß sie in der Fachliteratur unentwegt als Beweis dafür herhalten, daß der Westen bis zum letzten Moment bemüht gewesen sei, die Sowjetunion zu stabilisieren. ..."
→ Teil 2
Mária Huber: "Moskau, 11. März 1985 – Die Auflösung des sowjetischen Imperiums"
Deutscher Taschenbuch Verlag 2002 (Reihe "20 Tage im 20. Jahrhundert")
siehe auch das Telepolis-Interview mit Mária Huber vom 31.7.14 über die US-Einflussnahme in der Ukraine
Deutscher Taschenbuch Verlag 2002 (Reihe "20 Tage im 20. Jahrhundert")
siehe auch das Telepolis-Interview mit Mária Huber vom 31.7.14 über die US-Einflussnahme in der Ukraine
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