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Mittwoch, 21. Januar 2015

Nachrichtenmosaik Ukraine Folge 124

Gesammelte Nachrichten und Informationen zu den Ereignissen in der Ukraine und deren Hintergründen, ohne Gewähr und Anspruch auf Vollständigkeit und fast ohne Kommentar (aktualisiert: 14:28 Uhr)

• Anhaltende Kämpfe - Zivilisten getötet
"Bei den Kämpfen um den – ehemaligen – Flughafen von Donezk scheinen beide Seiten eine militärische Entscheidung erzwingen zu wollen. Der ukrainische Generalstabschef, General Wiktor Muzenko, verzichtete sogar auf einen geplanten Besuch bei der NATO in Brüssel, um die »Antiterroroperation« im Donbass persönlich zu leiten. Die ukrainische Seite behauptete, das neue Terminal des Flughafens von den Aufständischen zurückerobert zu haben. Sollte dies trotz des Dementis von Seiten der Volksrepublik Donezk zutreffen, konnte sich die ukrainische Seite ihres Besitzes nicht lange freuen. Am Montag stürzte der ganze erste Stock des Gebäudes nach zahllosen Granattreffern ein.
Inzwischen hat sich der Schwerpunkt der Kämpfe auf die westlich und nördlich des Flughafens gelegenen Ortschaften Peski und Awdejewka verlagert. Beide waren am Dienstag Schauplatz von Straßen- und Häuserkämpfen. Jede Seite berichtete über schwere Verluste des jeweiligen Gegners. Die Eroberung von Awdejewka ist für die Aufständischen auch wichtig, weil der Ort nahe der Straße in die 300.000-Einwohner-Stadt Gorlowka liegt, das zweitwichtigste Zentrum des Aufstandsgebietes. Gorlowka lag ebenso wie Donezk und etliche kleinere Ortschaften der Region weiter unter heftigem ukrainischem Artilleriebeschuss. ...
Kiew will das Problem einer nur teilweise kampfwilligen Armee mit einer Doppelstrategie lösen. Einerseits wurde vor einigen Tagen ein Gesetz verabschiedet, das Offizieren erlaubt, Soldaten auch mit vorgehaltener Waffe zum Kämpfen zu zwingen. Noch in der Beratung ist ein weiteres Gesetz, das es offiziell erlauben würde, sich vom Wehrdienst freizukaufen. Die Tarife sollen allerdings wesentlich höher liegen als die bisher gezahlten Schmiergelder von 800 bis 3.000 US-Dollar. ..." (junge Welt, 21.1.15)

• Poroschenko mit Pathos und Lügen
Reinhard Lauterbach äußert sich in der Tageszeitung junge Welt vom 21.1.15 über den Werteprediger und -verkäufer Poroschenko:
"»Wer Menschheit sagt, der will betrügen.« Der Satz kommt von einem, den man als Linker lieber nicht zitieren sollte. Aber wo der reaktionäre Staatsrechtler Carl Schmitt recht hatte, da hatte er recht. Was soll einem sonst dazu einfallen, wenn jemand ausgerechnet in einer vom Tauschwert und dessen Fortentwicklungen regierten Welt sagt, Europas Werte stünden nicht zum Verkauf? Also sprach Petro Poroschenko, Staatsoberhaupt der Ukraine, in einer »Zeitung für Deutschland«, die sich insbesondere dem Shareholder-Value verpflichtet weiß. Und niemand lacht ihn aus. Denn wenn im bürgerlichen Politikbetrieb Werte ins Spiel kommen, ist Argumentation nicht mehr erwünscht. Wer Werte beschwört, der will betrügen. Grüne Kriegstreiber beweisen es. ...
Nichts an Poroschenkos Slogan ist wahr: Die Behauptung, Werte stünden nicht zum Verkauf, lebt vom Wissen darum, dass das Gegenteil der Fall ist, dass Werte gerade in bürgerlicher Außenpolitik tagtäglich den Interessen weniger geopfert als angepasst werden. Dies ist die Form, in der sie wirklich existieren: als konjunkturanfälliger Überbau des Tagesgeschäfts. ...
Seine verzweifelte Berufung auf angeblich unverkäufliche Werte Europas verrät auch, dass er jedenfalls nicht in der Lage wäre, Europa ein Angebot zu machen, das die Koofmichs der politischen Klasse überzeugen könnte. So versucht er es mit Pathos und Lügen."

• Wem nutzt Kiews Rüstungsembargo gegenüber Russland?
"In diesen Tagen erscheint im Verlag Phalanx in Berlin das neue Buch »Kriegsherd Ukraine« vom Oberst a. D. und Diplom-Ingenieur Ralf Rudolph und dem Soziologen und Marktforscher Uwe Markus. jW veröffentlicht daraus einen redaktionell überarbeiteten Auszug aus dem Kapitel »Das Ende der Rüstungskooperation zwischen Russland und der Ukraine«. (jW)
Nach der Krimsezession und dem Ausbruch der Kämpfe in der Ostukraine machte sich die ukrainische Interimsregierung daran, die bislang engen Kooperationsbeziehungen zur russischen Industrie zu kappen. Es sollte eine Strafmaßnahme sein, die jedoch ambivalente Wirkungen zeitigt. Am 12. August 2014 wurde durch das ukrainische Parlament das Gesetz über Sanktionen gegen Russland mit 244 Stimmen angenommen (notwendig waren 226 Stimmen). Davon sind 65 russische Firmen und 172 Einzelpersonen betroffen. Darunter fallen auch alle Rüstungslieferungen. Obwohl der ukrainische Sicherheits- und Verteidigungsrat bereits im Juli der heimischen Industrie untersagt hatte, militärische Zulieferungen an Russland zu tätigen, verkündete Ministerpräsident Arseni Jazenjuk am 12. August nochmals, dass der Zulieferungsstopp die Modernisierungspläne der russischen Armee behindern solle. Es ist unstrittig, dass diese Entscheidung die Verteidigungsindustrie Russlands vor erhebliche Herausforderungen stellt, doch die ukrainische Regierung richtet damit zugleich erheblichen Schaden in der eigenen Wirtschaft an.
Mehr als 70 Prozent der Zulieferteile für die Rüstungsindustrie kommen aus Russland. 50 bis 60 Prozent der ukrainischen Waffenexporte gehen dorthin zurück. Die Einstellung dieser Kooperation dürfte daher die ukrainische Rüstungsindustrie an den Rand des Ruins treiben.
Schmerzhaft wird die Aufkündigung der Zusammenarbeit aber auch für Moskau sein. 3.000 verschiedene Produkte werden von 160 ukrainischen Betrieben nach Russland geliefert und dort für die Produktion oder den Betrieb von Militärtechnik verwendet. Erste Berechnungen der russischen Rüstungsindustrie zeigen, dass etwa 50 Milliarden Rubel erforderlich sein werden, um die Fertigung von 3.000 Baugruppen und Erzeugnissen zu ersetzen. Das soll in einem Zeitraum von zwei bis drei Jahren durch eigene Produkte gelingen. Auch eine verstärkte Kooperation mit China ist dabei möglich. ...
Viele Indikatoren sprechen dafür, dass Russland trotz aller aktuellen Probleme bei der Ablösung von Importen die Krise ökonomisch bewältigen wird. Zumindest die russische Führung macht in dieser Frage erheblichen politischen Druck. ...
Es könnte allerdings durchaus sein, dass der Schock des außenpolitischen Kurswechsels der Ukraine und die Sanktionen des Westens genau jenen existentiellen Druck erzeugen, den das Riesenreich benötigt, um Reformen konsequent umzusetzen. Die derzeitige politische Führung ist offenkundig bemüht, der kapitalistischen Wirtschaft des Landes durch massive staatliche Eingriffe einen Entwicklungsschub zu geben, der Russland für zukünftige geopolitische Auseinandersetzungen wetterfest machen soll. Es ist eine schwierige Gratwanderung zwischen zwei wirtschaftspolitischen Modellen. ..." (junge Welt, 21.1.15)

• Kiew bekommt Rechnung für russisches Gas
"Russland hat im Streit um offene Gasrechnungen der Ukraine 2,44 Milliarden US-Dollar zur Schuldenbegleichung eingefordert. Der staatliche Monopolist Gasprom habe dem ukrainischen Energiekonzern Naftogas eine Zahlungsaufforderung geschickt, sagte Gasprom-Chef Alexej Miller am Dienstag in Moskau Agenturen zufolge.
Die Ukraine hatte bis Ende vergangenen Jahres eine Teilschuld für alte Rechnungen in Höhe von 3,1 Milliarden Dollar (etwa 2,7 Milliarden Euro) beglichen. Dies war eine Bedingung für neue Gaslieferungen in den Monaten November 2014 bis Ende März 2015. Kiew und Moskau hatten sich Ende Oktober auf ein »Winterpaket« geeinigt, das auch einen Sonderpreis von zunächst 378 Dollar (326 Euro) je 1.000 Kubikmeter Gas vorsieht.
Für die Monate Januar bis März soll der Preis Berichten zufolge zwischen 340 und 360 Dollar liegen. »Diese Vereinbarungen können nur erfüllt werden, wenn die Schulden beglichen werden«, sagte Regierungschef Dmitri Medwedew. Zudem teilten Medwedew und Miller mit, der Sonderpreis laufe zum 1. April aus. Moskau sei jedoch zu neuen Gesprächen mit Kiew bereit." (junge Welt, 21.1.15)

• Zustimmung für Putin in Russland"Die häufig harsche westliche Kritik an ihrem Präsidenten lässt die Menschen in Russland unbeeindruckt. Für sie bleibt Wladimir Putin der beste Mann.
Den Stromanbieter würde Russlands Iwan Normalverbraucher - wenn er denn könnte - wohl lieber heute als morgen wechseln. Nicht so dagegen das politische Führungspersonal. Selbst bei jüngsten Umfragen des kritischen Lewada-Zentrums, wo der Kremlchef stets schlechter abschneidet als bei der staatsnahen Konkurrenz, wünschten sich 55 Prozent eine weitere Amtszeit für Wladimir Putin. Weitere zehn Prozent sprachen sich für einen Nachfolger aus, der Putins Politik fortsetzt. Namen fielen dazu indes keinem ein. Auch bei jenen 18 Prozent, die auf neue Politik mit neuer Führung hoffen, hatte nur gut die Hälfte der Befragten konkrete personelle und programmatische Vorstellungen für den Wechsel. ..." (Neues Deutschland, 21.1.15, S. 5)

• Obama: USA stehen Ukraine gegen russische Aggression bei
"US-Präsident Barack Obama hat in seiner Rede zur Lage der Nation einen Neuanfang Amerikas beschworen. "Die Schatten der Krise liegen hinter uns", sagte er vor beiden Kongresskammern. Senat und Repräsentantenhaus haben erstmals in seiner Amtszeit beide eine republikanische Mehrheit. Die Zeiten der Krise, des schleppenden Wachstums und der Kriege im Irak und in Afghanistan seien vorbei. "Heute Nacht schlagen wir ein neues Kapitel auf", sagte der Demokrat unter rauschendem Beifall. ...
Im Konflikt mit Russland sicherte Obama der Ukraine die weitere Rückendeckung Washingtons zu. "Wir erhalten das Prinzip aufrecht, dass größere Nationen die kleinen nicht schikanieren dürfen", sagte er. Die USA würden sich Russlands "Aggression" entgegenstellen. Im vergangenen Jahr hätten einige Beobachter das Vorgehen von Russlands Präsident Wladimir Putin als "meisterhafte Vorführung von Strategie und Stärke" dargestellt: "Heute ist es Amerika, das stark und vereint mit unseren Verbündeten dasteht, während Russland isoliert und seine Wirtschaft ruiniert ist. ..." (ARD tagesschau.de, 21.1.15)

• Offener Bruch des Waffenstillstands durch Kiewer Truppen - Aufständische kündigen Racheaktionen an 
"Offensichtlich ist der Versuch der ukrainischen Streitkräfte, "massive Angriffe" auf die "Volksrepubliken" und vor allem auf den Flugplatz von Donezk durchzuführen, gescheitert. Das dürfte eine mögliche Lösung noch schwieriger machen. Tatsächlich war es ein offener Bruch des Waffenstillstands, bislang hatten sich die Konfliktpartner gegenseitig die Schuld zugeschoben ("Massives Feuer" der ukrainischen Streitkräfte). In den letzten Tagen hatte die OSZE-Beobachtermission bereits die Verschärfung der Situation berichtet und erklärt, dass beide Seiten den Waffenstillstand brechen.
Der "Ministerpräsident" der Donezk-"Republik", Aleksandr Sachartschenko, erklärte, so Itar-Tass, der Raketenbeschuss sei noch nie so stark seit Beginn des Kriegs gewesen. Er warf Kiew den Bruch des Waffenstillstands vor, durch den Beschuss würden Zivilisten und Soldaten getötet und "unsere Häuser" zerstört. Er kündigte "Racheaktionen" an: "Wir werden nicht still sitzen und nichts tun und darauf warten, getötet zu werden. … Wir wollen unsere Republik sichern. Und wir werden sie verteidigen."
Kiew berichtet, es seien in den letzten Tagen wieder neue russische Soldaten in die "Volksrepubliken" gekommen. Der Sprecher des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats Lysenko spricht von zwei Bataillonen, was immer das genauer heißen mag. Informationen vom NSDC ist höchst bedingt zu trauen. Ukrainische Soldaten wollen russische Panzer in der Nähe des Flugplatzes gesehen haben. Während der letzten Tage sollen nach der russischen Menschenrechtlerin Elena Vasiliyeva 382 russische Soldaten getötet und 500 verletzt worden sein. Das ist ebenso wenig nachprüfbar wie die Behauptung der Separatisten, dass die ukrainische Seite schwere Verluste erlitten habe. In der Ukraine gibt es in Medienberichten in den Volksrepubliken nur "Terroristen" und wird ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine geführt. ...
In Russland wird vermutet, dass der Artillerieangriff nicht zufällig im Vorfeld des Treffens der EU-Außenminister erfolgt sei (EU schmiedet Anti-Terror-Bündnis mit Arabischer Liga). Die EU-Außenbeauftrage hatte ein Diskussionspapier vorgelegt, um einen Abbau der Sanktionen zu erreichen und die Beziehungen zu Russland wieder zu verbessern ("Uneingeschränkte Solidarität": EU-Parlament begrüßt Waffenlieferung an die Ukraine). Mit der Eskalation des Konflikts seitens Kiew sollte schon die Diskussion über eine Veränderung der Sanktionspolitik verhindert werden. Zudem sei Kiew auf weitere finanzielle Unterstützung angewiesen. Was auch immer die Absicht von Kiew gewesen sein mag, so wurde eine Veränderung der Sanktionspolitik gestern von den Ministern abgelehnt. Allerdings folgte man auch nicht dem Wunsch der ukrainischen Regierung, die "Volksrepubliken" zu Terrororganisationen zu erklären.
Im kriegerischen Konflikt scheint Kiew nun einen taktischen Rückzug einzuleiten. Die Ukraine bietet Russland an, das Minsker Abkommen zu erfüllen und einen sofortigen Waffenstillstand einzugehen. Dann könnte die Kontaktgruppe mit den Außenministern von Frankreich, Deutschland, Russland und der Ukraine sich treffen und einen Gipfel der Regierungschefs in Astana vorbereiten. ..." (Telepolis, 20.1.15)

• Neues Außenministertreffen in Berlin
"Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat seine Kollegen aus der Ukraine, Russland und Frankreich für Mittwoch erneut nach Berlin eingeladen, um über Lösungen für den Konflikt in der Ostukraine zu beraten. "Mit dem Aufflammen neuer Kämpfe in der Ostukraine in den letzten Tagen gibt es wieder eine bedrohliche Lage", erklärte Steinmeier am Dienstag in Berlin. Die Außenminister Russlands, Sergej Lawrow, und der Ukraine, Pawlo Klimkin, hätten ihn um die Einladung zu einem erneuten Gespräch mit ihm und Frankreichs Ressortchef Laurent Fabius gebeten." (Die Welt online, 20.1.15)

• Kiew kann nicht anders ...
"Seit Dienstag zieht die ukrainische Armee 50 000 Männer und Frauen ein. Damit hat die erste von insgesamt drei Mobilisierungswellen für das Jahr 2015 begonnen. Vor allem Russland wirft dem Nachbarn Ukraine vor, damit den Konflikt in der Ostukraine weiter anzuheizen. Doch die Ukrainer weisen die Schuld weit von sich. In Kiew habe die politische Führung „nichts ungetan gelassen, um auf dem Verhandlungsweg eine Lösung zu finden“, sagte Präsidentenberater Valerie Taschaly im ukrainischen Fernsehen. ...
Verteidigungsminister Stephan Poltorak teilte am Dienstag mit, die neue Mobilisierung sei unverzichtbar. In der aktuellen Mobilisierungswelle wolle man vor allem Frauen und Männer mit Berufserfahrung anwerben. Beobachter sprechen bereits davon, die Führung wolle Fehler aus dem vergangenen Sommer nicht wiederholen. Damals waren die Verluste unter anderem deshalb so hoch, weil die Kämpfer wenig Erfahrung mit Waffen und Kriegführung hatten.
Möglicherweise werden die neuen Soldaten schon bald zum Einsatz kommen. In der Ostukraine nehmen die Kämpfe täglich zu. Am Dienstag machten unter anderem Videos aus einem Stadtteil Donezks in der Nähe des Flughafens die Runde. In Kiewskiy wurden Passanten an einer Bushaltestelle beschossen. ..." (Der Tagesspiegel online, 20.1.15)
zur Erinnerung: "... Der Sekretär des ukrainischen Verteidigungsrates, Olexander Turtschinow, hatte zuvor angekündigt, bei der bevorstehenden Mobilisierung von bis zu 100.000 Männern würden vor allem Arbeitslose einberufen, die bei den Arbeitsämtern registriert seien. ..." (junge Welt, 19.1.15)

• Ischinger: Russland ist aggressiv und der friedliebende Westen darf nicht nachgeben
Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, im Interview mit der Tageszeitung Die Welt, online veröffentlicht am 19.1.15:
"... Ukraine, IS, Arabischer Frühling: Wie erklären Sie sich das Versagen der Sicherheitspolitik, aufkeimende Krisen zu erkennen?
Ich würde nicht von Versagen sprechen. Was treibt eigentlich Außenpolitik an, wurde der britische Premier Harold MacMillan einmal gefragt. Er sagte: "Events, my dear boy, events". So ist es. Ich war 1989 Mitarbeiter von Außenminister Genscher. Im Sommer 1989 haben wir weder den Mauerfall noch das Ende der Sowjetunion auch nur im Entferntesten am Horizont aufscheinen sehen. Als der damalige US-Botschafter Vernon Walters in Bonn prophezeite, es werde nicht mehr lange dauern bis zur Wiedervereinigung, da herrschte parteiübergreifend Entsetzen unter den Vertretern der politischen Orthodoxie Deutschlands. Wir haben es also nicht kommen sehen, 1989 nicht, und eben 2014 auch nicht. Aber auch Putin, da bin ich mir sicher, hat nicht kommen sehen, welche Folgen seine Aggression in der Ukraine haben würde. Er hat sich in eine Nebelwand begeben, ohne zu wissen, wo der Gipfel ist.
Wie meinen Sie das?
Die Ukraine war vor eineinhalb Jahren ein gespaltenes Land, im Westen habsburgisch-katholisch orientiert, im Osten orthodox-russisch. Heute können sie an jedem Gartenzaun auch in der Ostukraine die Nationalflagge sehen. Die Ereignisse auf dem Maidan haben zu einer tief greifenden Veränderung der nationalen Identität der Ukraine geführt. Der Maidan ist zu einem einigenden Element geworden. Heute ist zum Beispiel eine große Mehrheit der Ukrainer für die EU-Assoziierung. Noch vor anderthalb Jahren war die Meinung dazu gespalten. Der einzige Teil, wo anders gedacht wird, ist der von den Separatisten beherrschte Streifen an der russischen Grenze. Aber dieser Streifen ist letztlich ein Ballast für Russland, auch für die Annexion der Krim zahlt Putin einen hohen Preis. Der Kreml hat weder die Sanktionen noch den Ölpreisverfall in seine Kalkulationen einbezogen.
Ist Putin noch ein berechenbares Gegenüber für Verabredungen?
Putin steht vor einer nicht weniger schweren Aufgabe als die Amerikaner mit dem Abzug aus Vietnam. Die Herausforderung, auch für den Westen, lautet: Wir müssen einen Weg finden, der zum Ende dieser Krise führt, ohne dass Putin sein Gesicht verliert. Da wird man strategische Geduld benötigen. Es wäre ein Wunder, wenn die Bemühungen von Kanzlerin Merkel – ich bewundere ihre Engelsgeduld – schnell zum Ziel führen würden. Es wird darum gehen, mit kleinsten pragmatischen Schritten voranzukommen. Zügiger ginge es nur, wenn wir den Preis zahlen, den die Russen fordern, nämlich einen garantierten Verzicht auf eine Aufnahme der Ukraine in die Nato. Den Preis können wir nicht zahlen, weil unser Bekenntnis lautet: Jeder europäische Staat muss die Wahl haben, der Gemeinschaft anzugehören, der er angehören möchte. Der Deal ist also noch nicht erkennbar, der zu einem Ende führen könnte.
Wie kann zumindest eine erneute Eskalation verhindert werden?
Vordringlich ist der Versuch, einen gefährlichen Unfall bei den militärischen Muskelspielen zu verhindern. Wenn russische Jagdflugzeuge über US-Fregatten im Schwarzen Meer kreisen, dann kann bei den kurzen Vorwarnzeiten durch den Irrtum eines einzelnen Soldaten plötzlich eine Katastrophe passieren. Wir brauchen also eine strategische Vereinbarung zwischen der Russischen Föderation und der Nato über das Unterbleiben von möglicherweise interpretationsfähigen militärischen Aktivitäten. ...
Lassen sich schon erste Lehren aus der Ukraine-Krise ziehen?
Diese Krise hat der Nato vor Augen geführt, dass wir von falschen Voraussetzungen ausgegangen sind. Wir dachten, das Europa durch die Vielzahl an Verträgen, Verabredungen und gemeinsamen Institutionen zwischen Russland, Nato und EU so ausgestattet ist, dass Krisen verhindert werden können. Das war ein Irrtum, Krisen sind wild ausgebrochen. Wir haben zum Beispiel nichts für die Weiterentwicklung der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa getan. Es war für Russland möglich, Großmanöver an seiner Westgrenze abzuhalten, die von keiner Vereinbarung erfasst wurden. Vorläufig lässt sich also schlussfolgern: Die politische Sicherheitsarchitektur Europas funktioniert nicht. ..."
Mehr von Ischingers Sicht auf den Konflikt um die Ukraine ist in einem Beitrag von ihm vom 12.1.15 auf der Website der Münchner Sicherheitskonferenz zu lesen, u.a.: "Der Westen muss gegenüber Russland auf eine neue Doppelstrategie setzen", schreibt Wolfgang Ischinger in einem Essay für die Fachzeitschrift "Internationale Politik". "Mit dem Tabubruch, Grenzen nicht gewaltsam zu verändern, hat Moskau der Idee einer euro-atlantischen Sicherheitsgemeinschaft schweren Schaden zugefügt. Strategische Geduld ist nun gefragt. Der Westen sollte das Ziel aber nicht aufgeben und im Umgang mit Russland auf Eindämmung und Einbindung setzen. Ansatzpunkte dafür gibt es."

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alternative Presseschau aus ukrainischen, ostukrainischen und russischen Quellen


die täglichen Berichte der OSZE-Beobachtermission in der Ukraine   

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