Die Informationsstelle Militarisierung e.V. (IMI) Tübingen hat
eine interessante Studie über die Politik der EU gegenüber Syrien
veröffentlicht.
Der Titel der Studie "Imperialer Neoliberalismus: Syrien und die Europäische Nachbarschaftspolitik"
verdreht zwar etwas die Attribute und Verhältnisse. Es ist und bleibt
eben Imperialismus, der heute in seiner neoliberalen Erscheinung
auftritt. Und nicht Syrien, sondern die EU ist der imperialistische Part
dabei. Aber zurechtgerückt bleibt der Titel trotzdem schon mit dieser
prägnanten Beschreibung treffend. Sicher lässt sich auch über manche
Einschätzung der Situation in Syrien diskutieren, z.B. über den Begriff
"Revolution", weil nicht jede oppositionelle Bewegung gleich eine
revolutionäre ist. Aber der grundlegenden Sicht habe ich nichts entgegen
zu setzen. Da ich den einleitenden Worten zur Studie auch nichts
hinzuzufügen habe, seien sie hier direkt zitiert:
Für einigen Wirbel – und berechtigte Empörung – sorgte Ende Mai 2012
die Meldung, die westlichen Vorbereitungen für einen marktliberalen
Umbau Syriens nach dem Sturz des Präsidenten Baschar al-Assad seien
bereits auf Hochtouren angelaufen, wobei Deutschland eine Führungsrolle
einnehme.[1] Überraschen kann dies allerdings kaum: Schließlich bewegen
sich die westlichen Staaten hier auf bekannten und bereits ausgetretenen
Pfaden: Seit vielen Jahren hat die Europäische Union im Rahmen ihrer
Nachbarschaftspolitik die Agenda des bereits unter Assad begonnenen
Liberalisierungskurses maßgeblich mitbestimmt und dessen Umsetzung
mittels Fördergelder und Implementierungsprojekten massiv unterstützt.
Wie sich nun jedoch abzeichnet, soll der neoliberale Umbau des Landes
künftig nicht nur ungebrochen fortgesetzt, sondern womöglich sogar
beschleunigt werden.
Dies mag zwar den wirtschaftspolitischen Präferenzen der westlichen
Staaten entsprechen, für den Konflikt in Syrien ist es aber so
hilfreich, wie ein Feuer mit Benzin löschen zu wollen. Denn die durch
Assads „Reformen“ verursachte Verarmung breiter Bevölkerungsschichten
stellte eine der wesentlichen Rahmenbedingungen dar, die zum Ausbrechen
des Aufstandes gegen die syrische Regierung im Februar 2011 beigetragen
haben – ein Phänomen, das auch auf andere Staaten des südlichen
EU-Nachbarschaftsraums zutrifft: „Die gegenwärtigen arabischen Aufstände
sollten deshalb nicht nur als Anfechtung des arabischen Autoritarismus
gesehen werden, sondern auch als Anfechtung der Abhängigkeit vom
Westen.“[2] Die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) steht somit vor
einem Scherbenhaufen, den sie selbst angerichtet hat, sie bedarf einer
Generalrevision, die die Interessen der Nachbarländer und nicht die der
Europäischen Union in den Mittelpunkt rückt. Stattdessen wird jede wie
auch immer geartete Form der Eigenverantwortung konsequent geleugnet,
auch und gerade in Syrien: „Während der Westen die Unruhen in Syrien
weitgehend als politisch motiviert interpretiert, wird die eigene Rolle
daran durch die Förderung wirtschaftlicher Reformen und sozialer Härten
zumeist abgestritten.“[3]
Dieser Eigenverantwortung der Europäischen Nachbarschaftspolitik soll
im Folgenden nachgegangen werden. Hierfür werden zunächst die
generellen Ziele der Europäischen Nachbarschaftspolitik, ihre imperialen
Absichten und neoliberalen Prämissen, in den Blick genommen (Kapitel
1). Anschließend soll gezeigt werden, wie diese neoliberal-imperiale
Politik gegenüber Syrien zunächst per Assoziationsabkommen vertraglich
fixiert wurde (Kapitel 2). Darauf aufbauend wird beschrieben, wie die
Umsetzung der wirtschaftsliberalen Agenda in weiteren Dokumenten konkret
ausgeplant wurde – nebst finanzieller und logistischer „Hilfe“ für
zahlreiche hiermit befasste Einzelprojekte (Kapitel 3). Anhand zweier
Fallbeispiele soll anschließend gezeigt werden, wie die Europäische
Union mit konkreten Projekten die neoliberale Umstrukturierung Syriens
forciert hat (Kapitel 4). Daraufhin werden die sozialen Verwerfungen der
seitens der Europäischen Nachbarschaftspolitik forcierten
Liberalisierungspolitik unter Assad betrachtet und ihre Mitverantwortung
für das Ausbrechen der Proteste thematisiert (Kapitel 5).
Angesichts der – maßgeblich mitverursachten – Aufstände in Syrien und
der Region stellt sich aus Sicht der Europäischen Union vor allem
folgende Kernfrage: Wie kann gewährleistet werden, dass aus den
revolutionären Prozessen nicht Kräfte hervorgehen, die eine Alternative
zur neoliberalen Europäischen Nachbarschaftspolitik und den von ihr
geschaffenen imperialen Abhängigkeitsverhältnissen etablieren wollen? In
Syrien gelang dies – zumindest vorläufig – über die westlicherseits
massiv betriebene Militarisierung der Proteste, die zu einer
Marginalisierung der progressiven Kräfte führte. Gleichzeitig wurde
alles dafür getan, mit dem „Syrischen Nationalrat“ (SNC) einen Akteur
zur dominierenden Kraft der Aufstandsbewegung zu machen, der
augenscheinlich gewillt ist, den politischen und wirtschaftlichen
Präferenzen der Europäischen Union weit entgegenzukommen, indem u.a. der
Liberalisierungskurs auch nach einem Sturz Assads fortgesetzt werden
soll (Kapitel 6). Im abschließenden Fazit wird zusammenfassend
festgestellt, dass Deutschland und die Europäische Union aus
geostrategischen und ökonomischen Gründen mit ihrer Politik gezielt
Verrat an den sozialen Inhalten der Revolution betreiben (Kapitel 7).
Inhaltsverzeichnis:
1. Imperial-Neoliberale Nachbarschaftspolitik
2. EU-Assoziationsabkommen: Neoliberale Blaupause
3. EU-Hilfe für den neoliberalen Umbau
4. Fallbeispiele: ISMF und die Rolle der GTZ
5. Katastrophe mit Ansage. Der wirtschaftliche Umbau Syriens unter Assad und die Folgen
6. Liberalisierungspläne für die Zeit nach dem Bürgerkrieg
7. Verrat an der Revolution
Anmerkungen:
[1] Vgl. etwa Marktwirtschaft für Syrien, German-Foreign-Policy.com, 30.05.2012.
[2] Dahi, Omar S./Muni, Yasser: Aufstände in Syrien: Auf der Suche nach
der Schnittmenge – zwischen Autoritarismus und Neoliberalismus, in:
inamo Nr. 68, Winter 2011, S. 58-64: http://www.inamo.de/tl_files/dossiers/dahi-munif_inamo-68-2011.pdf
[3] Sen, Kasturi/Faisal, Waleed al: Syria Neoliberal Reforms in Health
Sector Financing: Embedding Unequal Access? in: Social Medicine, Vol 6,
No 3 (2012), S. 171-182, S. 171.
Die ganze IMI-Studie zum download hier
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