Dirk Vogelskamp vom Komitee für Grundrechte und Demokratie
erinnert an die Folgen der Demontage des Grundrechts auf Asyl vor 20
Jahre:
Die Folgen der Demontage des Grundrechts auf Asyl vor 20 Jahren – oder: Das vorhersehbare Ende einer humanen Flüchtlingspolitik
I. Die Demontage des Asylgrundrechts im Jahr 1993 gehört
in den Zusammenhang der diversen Etappen der Entrechtung von
Flüchtlingen und Immigranten in der BRD. Sie markiert eine Zäsur. Die
bundesdeutsche Asyl- und Migrationspolitik ist Teil der
gesellschaftlichen Produktionsbedingungen von Rassismus und Gewalt.
II. Es hat sich herausgestellt, das rassistische
Gewaltniveau in der BRD stieg immer dann an, wenn medial inszenierte
asyl- oder migrationspolitische Parlamentsdebatten bzw. -entscheidungen
anstanden (Änderung des Asylgrundrechts 1992/1993; doppelte
Staatsbürgerschaft 1998/1999; Einwanderungsdebatte 2001-2004, die
allzeit leicht entflammbare Integrationsdebatte) Rassistisch und
ausländerfeindlich motivierte Gewalt bezieht sich auf den
parlamentarischen Diskurs. Das gehört zum Grundwissen der Politik.
III. Allein im Jahr 1992 hat es 2.285
„rechtsextremistisch“ motivierte Gewalttaten gegeben, bei denen 17
Menschen starben. Insofern hat sich das Parlament in seiner 2/3 Mehrheit
mit der faktischen Aufhebung des Grundrechts auf Asyl im Mai 1993 zum
Erfüllungsgehilfen dieser rassistischen Gewalt gemacht. Es hat sie
ermutigt und bestätigt.
Denn schon früh versuchten Politik und Rechtsprechung
das vorbehalt- und schrankenlose Asylgrundrecht einzuschränken. Die
unbestimmten Rechtsbegriffe „politisch Verfolgte“ wurden weithin durch
die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte nicht durch den Gesetzgeber
gefüllt (Richterrecht). So kam es zu absurden Entscheidungen: Folter (in
der Türkei) wurde als kulturübliche Strafpraxis qualifiziert, die
keinen Rechtsanspruch auf Asyl nach sich zog. Auch im politischen Raum
wurden in den 1980er Jahren verschiedene Versuche unternommen, den
Anspruch auf Asyl einzuschränken, beispielsweise durch das
Asylverfahrensgesetz aus dem Jahr 1982. Drei zentrale Ziele wurden bei
den verschiedenen gesetzgeberischen Aktivitäten verfolgt: a)
Beschleunigung der Verfahren, Rechtswegeverkürzung; b)
Zugangserschwernis – Visaregime; c) Verschlechterung der sozialen
Situation der Flüchtlinge zwecks Abschreckung. Bereits Mitte der 1980er
Jahre favorisierten Vertreter politischer Parteien, das bereits durch
die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung deformierte Grundrecht auf
Asyl massiv einzuschränken oder gänzlich abzuschaffen.
Kurz: Die Grundrechtsänderung 1993 markiert insofern
einen vorläufigen Endpunkt in dem politischen Bemühen, das schrankenlose
Grundrecht auf Asyl, das einen Rechtsanspruch auf Asyl über die Normen
des Völkerrechts und der Genfer Flüchtlingskonvention hinaus
formulierte, einzuschränken. Damit wurde die Singularität der Aufnahme
des Asylgrundrechts in die bundesdeutsche Verfassung aufgegeben. Aus
einem allgemeinen vorbehaltlosen Grundrecht wurde ein Ausnahmerecht, das
es dem Staat erlaubt, Flüchtlingen das Grundrecht auf Asyl zu
verweigern und sie damit abzuweisen und schneller abzuschieben. Aus dem
Flüchtling als Rechtssubjekt wurde ein Objekt staatlicher
Flüchtlingsverwaltung mit weitreichenden Folgen und humanen Kosten. Die
Entscheidung wurde 1986 durch das Bundesverfassungsgericht
opportunistisch bestätigt. Entsprechend seiner Aufgabe, hätte es die
Verfassung hingegen schützen müssen.
VI. Die politischen Schlagworte, die die Debatte um die
Asylrechtsdemontage begleiteten, lauteten: „Asylmissbrauch durch Schein-
und Wirtschaftsasylanten“. Die Entmenschlichung beginnt in der Sprache.
Aus den Schlagworten wurden Brandsätze. Die Politik hatte die Gewalt
der Straße, der sie schließlich nachgab, zuvor mitproduziert. Die
Parteien hatten eine unverantwortliche Politik mit der Angst betrieben,
Vorurteile und Ressentiments geschürt, indem sie unzählige menschliche
Schicksale naturalisiert und als drohende „Asylantenfluten“ projiziert
hatten. Dabei handelte es sich vorwiegend um Menschen, die tatsächlich
Schutz vor dem kriegerischen Zerfallsprozess in Jugoslawien oder vor den
rassistischen Pogromen in Rumänien (Roma) suchten. Sie wurden in ein
aussichtsloses Asylverfahren gedrängt, da Flucht vor Krieg und
nichtstaatliche Verfolgung keine Asylgründe darstellten. So erst wurde
der „Asylmissbrauch“ künstlich aufgeblasen, in dem Bundeskanzler Kohl
schon den „Staatsnotstand“ heraufziehen sah.
VII. Im Anschluss an die parlamentarische Asylabstimmung
wurde im November 1993 das „Asylbewerberleistungsgesetz“ verabschiedet.
Damit wurde ein sozialpolitisches Sondergesetz geschaffen, das ein
menschwürdiges sozioökonomisches Existenzminimum für Asylsuchende und
andere Flüchtlinge weit herabsetzte (erst nach 19 Jahren durch das
BVerfG am 18.7.2012 korrigiert). Menschen wurden und werden im Namen des
Rechts diskriminiert. Dieses Gesetz verrechtlichte die Ungleichheit
zwischen Schutzsuchenden und der Mehrheitsbevölkerung. Dazu gehört bis
heute ebenso die Unterbringung von Flüchtlingen in „Sammelunterkünfte“ –
ein bürokratischer Euphemismus. Denn sie verkörpern die Funktionen von
Lagern: nämlich Kontrolle und Überwachung, Absonderung von der
Bevölkerungsmehrheit und die systematische Einschränkung der
Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse wie Privatheit,
Selbstbestimmung. Die Verrechtlichung der Ungleichheit setzt sich fort
in der „Residenzpflicht“ im Arbeitsverbot und weiteren restriktiven
Regelungen. Insofern senkte die Asylgrundrechtsdemontage die Hemmungen,
Menschen staatlicherseits inhuman zu behandeln. Dieser rücksichtslose
rechtsstaatliche Umgang mit Flüchtlingen, die Verletzung ihrer
Menschenwürde, konnte sogar als verfassungskonform erscheinen.
VIII. Die rechtsstaatliche Abschaffung des
Asylgrundrechts produzierte Illegalität, Kriminalität und Tod. Die in
das Grundgesetz eingefügten Vorbehalte wie die sogenannte
„Drittstaatenregelung“ und die „Regelung sicherer Herkunftsstaaten“
dienen bis heute allein der Abwehr von Flüchtlingen und ihren Rechten.
Sie schotteten Deutschland hermetisch gegen alle Schutzsuchenden ab.
Werden die Ein- und Zuwanderungsmöglichkeiten (grund)gesetzlich derart
beschränkt, werden Menschen genötigt, „unerlaubt“ einzureisen. Dadurch
werden sie illegalisiert und zugleich kriminalisiert. Aufgegriffen,
laufen sie Gefahr umgehend abgeschoben oder in Abschiebungshaft genommen
zu werden. Seit 1993 nahmen sich 170 Flüchtlinge angesichts drohender
Abschiebung das Leben – 64 von ihnen in Abschiebehaft. Weit über 1.000
Flüchtlinge haben einen Suizidversuch unternommen, aus Angst, deportiert
zu werden, oder weil sie die unerträglichen Lebensbedingungen in den
Lagern, in den Zonen minderer Humanität, nicht mehr ertragen konnten.
IX. Im Gefolge der Asylrechtsänderung wurde eine
Asyl- und Zuwanderungspolitik gesetzlich geschaffen, die wesentlich
darauf basiert, Menschen auszusieben, zu sondieren und von einander zu
scheiden: in wenige schutzwürdige und überwiegend „nicht schutzwürdige“
Flüchtlinge, in legale Einwanderer und illegale Einwanderer, in
Zuwanderer, die uns nützen und die uns ausnützen (Beckstein), in
erwünschte und irreguläre Arbeitsmigration, in integrationsfähige und
integrationsunfähige Ausländer, sogenannte „Integrationsverweigerer“.
Die jeweils letztgenannten halten sich unberechtigterweise oder
parasitär in der BRD auf. Diese politische und rechtliche Praxis
konstruierte den fremdgemachten Fremden, den „Ausländer“, erst als den
die Sicherheit bedrohenden Illegalen, als den Scheinasylanten, als den
Sozialtouristen, als Kriminellen, als jemanden, der sich widerrechtlich
und unberechtigt in Deutschland aufhält. „Ausländer“ werden allgemein
mit diesen Etiketten assoziativ verbunden und stigmatisiert.
X. Mit der politisch gewollten Aufgabe des Asylgrundrechts wurden
sukzessive Bedingungen gesellschaftlicher Feindseligkeit gegenüber
Flüchtlingen und Immigranten politisch hergestellt, die sich mit der
Produktion des „kriminellen Ausländers“, rationalisiert und effektiviert
im Gefolge der Antiterrorgesetzgebung seit dem Jahr 2001, trefflich
ergänzen. Zusammen fördern sie Gewalt und Rassismus. Wässern und düngen
deren Boden. Daraus ist eine Politik entstanden, die heute im
unerbittlichen Kampf gegen die unerwünschte, gegen die „illegale“
Einwanderung den Tod Tausender im Mittelmeer hinnimmt. An den
Außengrenzen der Europäischen Union haben in den letzten 20 Jahren über
20.000 Menschen ihr Leben gelassen, weil europäisch die deutsche Politik
der tödlichen Abschottung und Selektion fortgesetzt wird. Die
Abschaffung des Grundrechts auf Asyl markiert insofern einen Kipppunkt
in der Entrechtung der Flüchtlinge und Immigranten. Danach hat sich die
deutsche Asyl- und Migrationspolitik zusehends brutalisiert.
Menschenrechtswidrig. Aus dem „Staatsnotstand“ ist ein Normalzustand
geworden. Zwanzig Jahre ohne Grundrecht auf Asyl scheinen die realen
Nöte und dringenden Bedürfnisse von Flüchtlingen und Migranten,
allgemein, ihre Menschenrechte weitgehend auch aus dem moralischen
Horizont großer Teile der Bevölkerungen gekippt zu haben. Als ob diese
aus der Welt gefallen, der Menschheit nicht zugehörig seien. Diese
gewaltförmige und -fördernde Politik findet mehrheitlich Akzeptanz in
den europäischen Bevölkerungen. Angesichts der weltweiten politischen,
sozioökonomischen und klimabedingten Verwerfungen ist eine Rückkehr zu
einer humanen, menschenrechtsgemäßen Flüchtlings- und Migrationspolitik
realistisch wohl nicht zu erwarten.
Mit Erlaubnis des Autors wiedergegebenes Statement von Dirk
Vogelskamp für die Veranstaltung des Friedensbildungswerks und des
Komitee für Grundrechte und Demokratie „Was ist vom Asylrecht
geblieben?“ am 23. Mai 2013 in Köln.
Als PDF-Datei auf der Website des Komitees für Grundrechte und Demokratie zu finden.
Mehr vom und übers Komitee gibt es online hier
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