Jakob Augstein, Verleger der Wochenzeitung Der Freitag, hat in seiner jüngsten Kolumne bei Spiegel online in der Rubrik „S.P.O.N. – Im Zweifel links“
 vor dem „Krieg aus Versehen“ zwischen Russland und dem Westen in der 
Ukraine gewarnt. Was er da geschrieben hat, hat in mehreren Punkten 
notwendigen Widerspruch verdient, auch, weil es nicht einmal „im Zweifel
 links“ ist.
Augstein meint, „der Westen sollte sich aus diesem Konflikt 
zurückziehen“, weil die Ukraine „das Risiko nicht wert“ sei. Er lässt 
dabei außer acht, dass es ohne die westliche Politik diesen Konflikt 
nicht geben würde. Die Rolle der US-Regierung und der EU, einschließlich
 der Bundesregierung, am Zustandekommen der Krise in und um die Ukraine 
ist mehrfach beschrieben und belegt worden. So hat u.a. der ehemalige 
Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzende des NATO-Militärrates mehr als einmal darauf hingewiesen,
 dass die westliche Politik Eskalation statt Deeskalation betreibt. So 
habe die NATO vor der Krim-Krise "überhaupt keinen Beitrag zur 
Deeskalation" geleistet.
Diese Fakten widersprechen ebenso Augsteins Behauptung von „Putins 
Pokerspiel“, auf das sich der Westen eingelassen habe. Die Entwicklung 
in der Ukraine vor der Machtübernahme in Kiew am 23. Februar sowie die 
dem folgende war alles andere als das Werk Moskaus. Wer das dennoch 
behauptet, widerspricht Beobachtern und Analysen der Ereignisse. Diese 
Behauptung reduziert Zusammenhänge auf eine ganz einfache oberflächliche
 Erklärung. Sie folgt u.a. nichts anderem als dem Meinungsmache-Muster, 
politische Konflikte zu personalisieren und psychologisieren sowie die 
Handelnden zu dämonisieren. Auf diese Weise wird "eine einzelne Person 
zum hassenswerten Schurken, der das alles verursacht haben soll", 
gemacht, wie es Manfred Wekwerth 2011
 beschrieb. "Die Kosten des Psychologisierens sind gering, die Wirkung 
enorm." Es taugt vielleicht für die Propaganda und den Stammtisch, aber 
nicht für eine ernsthafte Diskussion – wenn es denn um eine solche gehen
 sollte.
Alles andere als ahnungslos
Die westliche Politik hat sich in dem Konflikt nicht durch 
„Ahnungslosigkeit“ ausgezeichnet, wie Augstein meint. 
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und Co. sind auch nicht wie 
„Schlafwandler“ in die Situation hineingestolpert. Sie haben nicht nur 
nichts zur Deeskalation, sondern viel und Entscheidendes zur Eskalation 
beigetragen. Davon zeugen nicht nur die zahlreichen Auftritte westlicher
 Politiker auf dem Maidan-Platz und die Entweder-Oder-Haltung der EU 
beim Assoziierungsabkommen mit der Ukraine. Damit sind sie für die 
Folgen verantwortlich, auch weil sie die entsprechenden Warnungen und Gesprächsangebote der russischen Seite
 ausgeschlagen haben. Die westlichen Bemühungen, die Ukraine in den 
eigenen Einflussbereich zu bringen, gab es schon lange vorher. So gibt 
es seit Jahren regelmäßige NATO-Manöver in der Ukraine, „Rapid Trident“ und „Sea Breeze“, auch mit deutscher Beteiligung. Die sollen auch in diesem Jahr
 ganz in der Nähe der russischen Grenze stattfinden.  Welche russische 
Reaktion darauf die Obama-Administration denn erwartet habe, gerade 
angesichts der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol, fragte u.a. 
zu Recht der US-Autor Howard Friel.
 Dazu gehört auch, dass unlängst ausgerechnet mit dem AEGIS-Kreuzer „USS
 Donald Cook“ das erste dauerhaft im Raketenabwehrsystem der USA 
(ballistic missile defense - BMD) eingesetzte Schiff im Schwarzen Meer 
aufkreuzte. Das wurde selbst von US-Beobachtern als „provokative Aktion“ eingeschätzt.
Diese Ignoranz gegenüber russischen Interessen setzt sich auf 
wirtschaftlichem Gebiet fort. Die ökonomischen Verflechtungen zwischen 
Russland und Ukraine sind bekanntermaßen historisch bedingt und 
beiderseitig sehr tief. Sie reichen in den Rüstungsbereich hinein, was 
u.a. dazu führt, dass die russische Armee auf Produkte aus der Ukraine angewiesen ist, bis hin zu Teilen für die strategischen Raketen. Auch die russische Raumfahrt ist davon abhängig.
 Das wurde von der EU, die das Assoziierungsabkommen nach dem 
Entweder-Oder-Prinzip gegenüber der ukrainischen Regierung unter Wiktor 
Janukowitsch durchsetzen wollte, ebenfalls missachtet, bewusst oder 
unabsichtlich. Letzteres scheint unwahrscheinlich: Könnte der Westen auf
 die ukrainische Rüstungsproduktion zugreifen, hätte er ein schwerwiegendes Instrument für Kontrolle und Erpressung
 gegen Russland und dessen Armee in der Hand. Diese Fakten und 
Zusammenhänge sind bekannt und nachprüfbar. Deshalb wirken Handlungen 
und Worte jener, die sie ignorieren, eben wie eine bewusste Provokation.
Das widerlegt auch, dass die USA „Putins Fehdehandschuh“ nur 
„erstaunlich bereitwillig“ aufgegriffen hätten, wie der Freitag-Verleger
 behauptet. Dasselbe gilt für: „Putin eskaliert diese Krise 
absichtlich.“ Augstein wird seine „eigenen Gründe“ dafür kennen, dass 
er, die Fakten und Zusammenhänge ignoriert sowie Ursachen und Wirkungen 
verdreht. Auch dafür, dass er vom Juristen Gregor Gysi nicht mehr über 
das Völkerrecht belehrt werden will. Den Hinweis auf den mit Lügen 
begründeten NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 und dass erst dieser „dem 
verbrecherischen Serben-Regime ein Ende bereitete“ halte ich mindestens 
für unangebracht. Der Freitag-Verleger zeigt sich hier leider nicht nur 
als Befürworter von Kriegen als Mitteln der Politik. Er redet zugleich 
einer unheilvollen antiserbischen Hetze das Wort, die allein angesichts 
der deutschen Geschichte Fehl am Platze ist. Das ist sie auch angesichts
 der Tatsachen, den Zerfall Jugoslawien samt der damit verbundenen 
Kriege betreffend. Auf die Verantwortung des Westens dafür hat u.a. der 
leider 2011 verstorbenen Kurt Köpruner aufmerksam gemacht. Der österreichische Unternehmer und Buchautor sagte 2004 in einem Vortrag:
 „Die unmittelbare Folge der Anerkennungspolitik war die rasche 
Ausweitung der Kriege, und zwar mit stets steigender internationaler 
Beteiligung. Genau das …, was Genscher mit seiner Anerkennungspolitik 
verhindern wollte: ‚eine weitere Eskalation der Gewaltanwendung‘. Und da
 man für das totale Scheitern der eigenen Politik einen Sündenbock 
braucht, lief während der gesamten neunziger Jahre eine fast 
beispiellose Diffamierung des ganzen serbischen Volkes ab. Die Serben 
sind an allem schuld, das wurde von Vukovar bis Dubrovnik, von 
Srebrenica bis Racak gleich tausendfach bewiesen. ... So einfach ist 
das, es braucht gar nicht mehr lange begründet zu werden. Es ist 
schlicht ein Faktum, obwohl es allen Fakten widerspricht, wie ich 
gleichfalls in meinem Buch nachgewiesen habe, und mit mir zahlreiche, 
auch weitaus Berufenere, andere.”
Mit Fischer und Albright gefreut?
Ich kenne Augsteins „eigene Gründe“ für diesen antiserbischen Ausfall
 nicht. Er ist mindestens zu bedauern. Hatte er sich vielleicht im 
Oktober 2000 mit dem damaligen Bundesaußenminister Joseph Fischer gefreut,
 für den mit dem Sturz von Slobodan Milosevic „der letzte Teil einer 
kommunistischen Diktatur mit zehnjähriger Verspätung gefallen“ war? Oder
 mit der damaligen US-Außenministerin Madeleine Albright,
 die sich damals freute, dass die Serben nun „endlich vom Kommunismus 
befreit sind“? Ist dass der Grund im Hintergrund für Augsteins 
nachträgliches Plädoyer für die westliche Einmischung in Jugoslawien bis
 zum NATO-Krieg 1999? Ist das sein Motiv dafür zu behaupten: „Gegenüber 
Serbien wäre Appeasement … ein Verbrechen gewesen.“?
Nur an dem Punkt kann ich Augstein zustimmen: „Wer dieses Wort nutzt,
 muss sich erklären.“ Denn damit wird absichtlich oder unbewußt an das 
Gewährenlassen der deutschen Faschisten durch die damaligen Westmächte 
kurz vor Beginn des 2. Weltkrieges erinnert. Und natürlich will auch der
 Freitag-Verleger Putin nicht mit Hitler vergleichen. Doch selbst seine 
Erklärung des Begriffes ist unzureichend: Appeasement ist mehr als 
Dulden, Wegschauen oder gar Kapitulation bei Vertragsbrüchen oder 
Aggressionen. Es war schon damals mehr als eine „Politik der 
Beschwichtigung“, bevor es ein „verächtliches Schimpfwort“ wurde. Dazu 
zählten neben diplomatischen Aktivitäten vor allem wirtschaftliche 
Angebote an das faschistische Deutschland zur Kooperation, auch um zu 
zeigen, dass diese besser ist als Konfrontation und allen etwas bringt. 
„Political“ und „Economic Appeasement“ waren „gleichsam zwei untrennbare
 Aspekte einer einzigen politisch-wirtschaftlichen Friedenskonzeption“, 
schrieb der Historiker Bernd Jürgen Wendt 1982. Dazu zählte auch die 
Hoffnung, durch wirtschaftliche Kooperation die liberaleren Kräfte im 
Dritten Reich zu stärken. Wer heute darüber redet oder schreibt, sollte 
die Formel vom Appeasement nicht als kurzschlüssigen historischen 
Vergleich missbrauchen. Der Blick in die Geschichte sollte eher dazu 
dienen, zu prüfen, warum das Konzept damals scheiterte. Klar ist, dass 
es gegenüber dem faschistischen Deutschland von vornherein nur Illusion 
war. Interessant wäre gerade die Antwort auf die Frage, welche ob das 
Konzept heute nützlich sein können im Fall von Konflikten, auch wie im 
Fall Ukraine. Eine solche politisch-wirtschaftliche Friedenskonzeption 
setzt natürlich das entsprechende Interesse daran und den Willen dazu 
voraus. Das lässt aber aktuell nicht die russische Führung vermissen, 
sondern die führenden Kräfte von USA und EU. Im konkreten Fall schwingt 
immer der pauschale Vergleich mit und wird Russland damit indirekt als 
Aggressor hingestellt. Das mag unabsichtlich sein, bleibt aber ebenso 
unangebracht und falsch.
Russland ist nicht der Aggressor, der eine günstige Gelegenheit 
ergreift, sich seinen Teil der Ukraine zu holen. Er befördert auch nicht
 in ihren Zerfall. Russische Politiker haben vor und nach dem 23. 
Februar vor eine Eskalation der Entwicklung in der Ukraine mit eben 
dieser Folge gewarnt. Solche pauschalen Vorwürfe sollten nicht ohne 
Belege bleiben. Wer solches behauptet, ausdrücklich oder indirekt, 
missachtet ein weiteres Mal die Tatsachen. Diese reichen von der 
unheilvollen antirussischen westlichen Politik, die nach dem Zerfall der
 UdSSR nicht endete und bereits vor 1917 begann. Sie schließen ein, was 
das Land und seine Menschen im 2. Weltkrieg erleiden mussten, zusätzlich
 zum stalinistischen Terror. Sie reichen weiter über den Kalten Krieg 
und nach diesem zu Vorstellungen eines Zbigniew Brzezinski von einem 
dreigeteilten Russland nach dem Prinzip „Teile und herrsche“.
NATO 500 Kilometer vor Moskau
Und was die von Augstein angesprochenen Grenzen des Völkerrechts 
angeht: Russland habe diese überschritten, sagen die meisten westlichen 
Fachleute für internationales Recht. Sie vertreten gewissermaßen die 
sogenannte herrschende Meinung (sic!), die es immer in der Auslegung 
rechtlicher Regeln gibt. Ebenso gibt es üblicherweise die alternativen 
Kommentare und Auslegungen. Und so gibt es auch widerstreitende Sichten 
zum Völkerrecht und den russischen Reaktionen auf das Geschehen in der 
Ukraine. Die russische Politik kritisch zu sehen, als völkerrechtswidrig
 einzuschätzen und dennoch sachlich auf die westliche Rolle und deren 
Auslöser für die russische Reaktion aufmerksam zu machen, ist immerhin 
möglich. Das zeigt August Pradetto, Politikwissenschaftler an der 
Bundeswehr-Universität Hamburg, in Heft 5/2014 der Blätter für deutsche und internationale Politik.
 Dort weist er u.a. auf Folgendes hin: „Territoriale Machtpolitik zur 
Neuordnung der postkommunistischen Welt betreibt der Westen seit der 
Auflösung des Warschauer Pakts 1990/1991.“ Der militärisch gestützte 
Regimewechsel sei seit 1995 zu einem „Kennzeichen westlicher 
Außenpolitik“ geworden, „aufgrund der großen wirtschaftlichen und 
militärischen Übermacht des Westens“. „Im Vergleich dazu ist die 
Geopolitik Moskaus regelrecht bescheiden, natürlich auch, weil die 
wirtschaftlichen und militärischen Ressourcen bescheiden sind.“ Auch 
Pradetto erinnert daran: „Mittlerweile steht die Nato mit ihren 
Raketenabwehrsystemen fast an den russischen Grenzen.“ Und: „Die Nato 
500 Kilometer vor Moskau: Man muss entweder naiv oder zynisch sein, um 
russische Sorgen als bloßen Rückfall in den Kalten Krieg abzutun.“
Der Wissenschaftler fragt, woher die Empörung über Wladimir Putin 
rührt. „Wird etwa erwartet, dass Putin sich völkerrechtlich, politisch 
und rhetorisch anständiger verhält als unsere eigenen demokratischen 
Führungspersönlichkeiten? Oder hat sich mittlerweile die Auffassung 
durchgesetzt, dass all das, was der Westen macht, per se legitim ist, 
und das, was Russland und einige andere machen, per se illegitim?“ Und 
er fügt hinzu: „Wenn das so ist, dann sitzen ‚unsere‘ Journalisten und 
Beobachter nicht weniger der Propaganda ihrer Staatsführer oder ihrer 
eigenen Ideologie auf als die Journalisten und Beobachter in jenen 
Ländern, die wir für gelenkte Demokratien oder Diktaturen halten.“
Liegen Augsteins „eigene Gründe“ für die Kolumne darin, dass er als 
Erbe des Spiegel-Gründers, Spiegel-Teilhaber und Freitag-Verleger 
inzwischen Teil jenes Netzes aus Journalisten, Medienmachern und den 
Mächtigen des Landes ist, das unlängst der Medienwissenschaftler Uwe Krüger beschrieb?
 Wie auch immer. Seinen Ratschlag, an den Westen, sich völlig 
rauszuhalten, finde ich nicht minder unangemessen. Das würde der Ukraine
 in ihrer auch wirtschaftlich und damit sozial desaströsen Lage am 
wenigsten helfen. Ja: "Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch 
erkennen, dass A falsch war." Deshalb sollte der Westen, der die Krise 
mit ihrer antirussischen Stoßrichtung mindestens aktiv befördert hat, 
eigentlich alles für ihr Ende tun, dafür, einen neuen Kalten Krieg mit 
all seinen Folgen zu verhindern. Die Teilung der Ukraine würde nur die 
Linie der Konfrontation verschieben, aber sie nicht beenden. Das könnte 
durch eine Kursumkehr wieder in Richtung Zusammenarbeit geschehen. 
Pradetto stellt zu recht fest: „Eine aus der Logik der Konfrontation 
resultierende Entwicklung wird für keine Seite vorteilhaft sein.“ 
Zusammenarbeit wäre vor allem für Russland und die EU von Nutzen, auch 
für die Ukraine und die anderen osteuropäischen Staaten. Doch dazu 
müsste die westliche Politik über ihren Schatten, sprich über ihre 
kurzfristigen Interessen springen – das scheint das Problem. Den 
geringsten Nutzen davon hätten wahrscheinlich die USA als „einzige 
Weltmacht“ (Brzezinski). Vielleicht ist genau das das zusätzliche 
Problem. Augsteins Kolumne bietet keine Lösung dafür an. Sie ist nicht 
mal „im Zweifel links“, sie ist eher ein Gemisch aus pauschalen 
Schuldzuweisungen und westlicher Überheblichkeit. Leider.
 
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