Der Russe ist aggressiv, hinterhältig und noch manch Böses mehr. Das ist seit dem 15. Jahrhundert immer wieder zu hören und zu lesen, woran unter anderem Hannes Hofbauer in seinem kürzlich erschienenen Buch „Feindbild Russland“ erinnert. Daran musste ich denken, als ich die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Internationale Politik (Mai/Juni 2016) zu lesen begann. Sie ist dem Hauptthema „Russland verstehen“ gewidmet. „Deutschlands führende außenpolitische Zeitschrift“ wird von der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik (DGAP) herausgegeben, die sich selbst als „das nationale Netzwerk für Außenpolitik“ bezeichnet und als „als moderner Think-Tank, als Berater und Impulsgeber der operativen Außenpolitik“ versteht. Die Zeitschrift gibt einen Einblick in das Denken derjenigen, die unter anderem die Bundesregierung beraten und beeinflussen. Der Geist der Beiträge des aktuellen Heftes widerspricht demjenigen, der von wenigen Stimmen der Vernunft hierzulande zu vernehmen ist und die auf einen Ausgleich mit Russland orientieren und ein Ende der westlichen Sanktionen gegen Russland fordern. Auf zwei davon hatte ich kürzlich aufmerksam gemacht.
Entgegen solcher und anderer Stimmen für einen gleichberechtigten Dialog mit Moskau fordern die Autoren in der aktuellen Internationalen Politik das Gegenteil. Das beginnt beim ersten Beitrag, geschrieben von der estnischen Politikwissenschaftlerin Kadri Liik, „Senior Policy Fellow des European Council on Foreign Relations (ECFR)“. Nebenbemerkung: Der ECFR ist der europäische Ableger des US-amerikanischen Council on Foreign Relations (CFR), einem der führenden US-Thinktanks, als dessen deutsche Vertretung sich die DGAP versteht. Liik ist sich sicher, „dass jeder Versuch, über ‚Gemeinsamkeiten‘ oder gemeinsame Interessen zu reden, nicht nur nutzlos, sondern gefährlich wäre“. Sie hält es für „sinnvoller“, mit Moskau über die Unterschiede zu reden. Für die Autorin gibt es heute zwischen West und Ost „nicht nur grundsätzlich unterschiedliche Ansichten, was akzeptables internationales Verhalten ausmacht, sondern auch, welche Ziele und 'natürliche' Beweggründe es untermauern.“ In Russland, bei einer „kleinen Gruppe Gleichgesinnter“ im Kreml, habe sich ein „kohärentes antiwestliches Narrativ festgesetzt, in das einzudringen unmöglich erscheint“.
Sie verstehe den Wunsch nach einem positiven Dialog, den sie schon in Anführungszeichen schreibt. Aber die Differenzen seien „so tiefgreifend, dass sie nicht von einer weiteren, noch so gut gemeinten bürokratischen Initiative überbrückt werden könnten.“ Zu ihren eigenen Annahmen gehört unter anderem: „Das Konzept taktischer Kooperation ist der russischen Elite fremd.“ Die hätte deshalb zum Beispiel US-Präsident Barack Obama nach dessen Amtsantritt falsch verstanden, als der einen Neustart der Beziehungen zwischen Russland und den USA angekündigte. Während Russland sich als Großmacht akzeptiert sah, sei es Washington nur um Gemeinsamkeit bei einer begrenzten Anzahl von Themen gegangen. Moskau wolle zwar ebenbürtig behandelt werden, verstehe das aber so, „selbst Regeln setzen und modifizieren zu können anstatt die eigenen Interessen nur innerhalb des nach 1989 entstandenen, regelbasierten europäischen Systems zu verfolgen“, erklärt Liik.
Immerhin gesteht die Estin Russland zu, dass es „keine expansionistische Macht, die die Welt dominieren, Europa erobern oder die Sowjetunion wiedererrichten will“, sei. Es habe auch „keine ambitionierte globale Agenda“. „Aber es möchte Einflusszonen in dem Raum, den die EU ‚Östliche Nachbarschaft‘ nennt, und es möchte diese Einflusszonen als Organisationsprinzip internationaler Politik anerkannt wissen.“ Russlands Handeln im Nahen Osten hat für Liik „mit Moskaus konterrevolutionärer Haltung“ zu tun, ebenso mit dem „Prinzip der Unverletzlichkeit von Regimen“, wie sie Moskaus Orientierung auf das Völkerrecht und die Souveränität von Staaten übersetzt. Das sei für Moskau wichtig, „denn aus russischer Sicht hat der Westen die meisten Revolutionen 'von unten' der vergangenen Jahrzehnte ins Werk gesetzt.“ Zwischenfrage von mir: Wie kommen die in Moskau bloß auf so etwas?
Der Sowjetmensch Putin braucht Grenzen
Der Westen habe „die Tiefe der Differenzen“ nicht erkannt, antwortet sie indirekt all jenen, die sich für Kooperation mit Russland als Partner aussprechen. Aber: „Das liegt nicht nur an intellektueller Faulheit und Wunschdenken.“ Auch die Kommunikation zwischen beiden Seiten habe sich verschlechtert „– und das liegt wiederum am Wesen der beteiligten Persönlichkeiten, vor allem Wladimir Putins“. Dessen „Weltsicht und sein Modus Operandi sind viel stärker von sowjetischen Normen und Hagiographie geprägt, als es unter Russen heute üblich ist, selbst innerhalb seiner eigenen Generation.“ Sein Kommunikationsverhalten trage „untrügliche sowjetische Züge“, was der Westen oft als Täuschung missverstehe. Liik erklärt, dass das Leben in der Sowjetunion von Heuchelei als „sozialer Pflichtübung“ geprägt war. Und so würde Putin zwar westlich-liberale Rhetorik benutzen, „um seine oft ziemlich illiberalen Botschaften zu transportieren“, aber immer wieder „auch die primitive, nackte Wahrheit“ auszusprechen. Das sei Doublespeak, den es auch im Westen gebe, wo er aber nie zur Norm geworden sei und anders als in Russland nicht zu einer doppelten Realität geführt habe. „Diese Logik mag auch erklären, warum Russland so unglücklich ist mit internationalen Regeln und Werten, denen es sich freiwillig unterworfen hat: Es hat nie geglaubt, dass diese sowohl den Buchstaben als auch dem Geist nach befolgt werden sollten.“ Als Beispiel wird die „Sonderoperation auf der Krim“ angeführt. Bei Putins vermeintlichen Lügen dazu macht Liik eine „gewisse Logik“ aus. Es gehe nicht allein um Täuschung, sondern um Kommunikation: „Die Krim-Operation signalisierte, dass Russland willens und in der Lage ist, die Regeln in seiner Nachbarschaft zu setzen.“ Putin nutze „Eskalation oft als Einladung zu Verhandlungen oder um zu verlangen, dass seine Wünsche ernst genommen werden“. „Solches Handeln ist häufig sein Ersatz für direkte Gespräche“, schreibt die Politikberaterin und zitiert einen anonymen „Brüsseler Beamten“: „Russland hat nie gesagt, dass es eine Einflusssphäre in der Ukraine beansprucht! Hätte es das gesagt, wären wir die Angelegenheit anders angegangen.“ Dabei wird geflissentlich ignoriert, dass zum Beispiel 2008 Russland den Westen deutlich und nachweislich vor den Folgen warnte, als die Nato unter anderem der Ukraine und Georgien die Mitgliedschaft zusagte. So geht es in Liiks Erklärungen für die west-östliche Misskommunikation, die sie ausgemacht hat, weiter.
Die Estin hält es für „notwendig, Russland Grenzen aufzuzeigen“, ohne „allzu starke Parallelen zum Kalten Krieg zu ziehen“. Eine neue Politik der Eindämmung (Containment-Politik) Russlands könne weniger erfolgreich sein da Russland heute „viel schwächer als der Westen“ sei, „aber der Westen ist auch viel stärker abgelenkt“. Das führe zu einem neuen Kalten Krieg, der asymetrisch sei „– und der Westen hat in asymmetrischen Kriegen stets viel schlechter abgeschnitten als in symmetrischen“. Ein „regelrechter, öffentlich ausgetragener Kalter Krieg“ würde Moskau ins Konzept passen, da es so die Menschen in Russland „gegen den äußeren Feind in Stellung bringen“ könne. „Der Sturz des Regimes ist für sich genommen auch keine Lösung. Damit eine gute Entwicklung Wurzeln schlagen kann, müsste sich das Regime erst in den Augen der Bevölkerung diskreditieren und dann von ihr selbst verändert werden.“ Auch die Option einer „Kombination aus Standhaftigkeit und einem attraktiven Projekt“ könne von Russland missverstanden, warnt Liik. Deshalb fordert sie einen Dialog, „der sich nicht auf die Gemeinsamkeiten konzentriert, sondern auf die Unterschiede“. Einigkeit über die Differenzen würde diese „weniger gefährlich“ machen. „Wäre Moskau erst überzeugt, dass der Westen seine Prinzipien in der Ukraine zu verteidigen versucht, aber keinen Angriff auf Moskau vorbereitet, würde die Gefahr eines präemptiven Schlages gegen westliche Verbündete deutlich reduziert.“ Putin müsse im Gespräch gehalten werden, ist ihre Vorstellung vom Dialog. Russland müsse „genau erkennen, dass der Westen zur Verteidigung von NATO-Territorium bereit ist, jedoch keinen Angriff auf russisches Territorium vorbereitet.“ Liik empfiehlt: „Europa sollte auf vielen Ebenen das Gespräch mit Russland über unsere Differenzen suchen, ohne das Ziel eines großen Ausgleichs zu verfolgen. Ein positives Projekt im Rahmen bestehender Missverständnisse zu beginnen, wäre gefährlich, denn die geweckten Erwartungen würden nur immer gefährlichere Gegenreaktionen heraufbeschwören.“
In einem Interview der DGAP-Zeitschrift mit der US-amerikanischen Politikwissenschaftlerin Karen Dawisha meint diese, dass Russlands politisches System durch Gier und Korruption zusammengeschweißt werde. Das sei besser als eine ideologische Grundlage: „Sonst wäre das Regime für den Westen noch viel gefährlicher.“ Die größte Bedrohung für den Westen, die von Russland ausgehe, sei die „Korruption des eigenen Systems“. Die angeblichen Enthüllungen über die „Panama-Papers“ und die Diskussionen zeigen ihrer Meinung nach: „Die US-Regierung weiß eine Menge über Putin. Eine ganze Menge.“ Dawisha findet im Vergleich zur EU die US-Sanktionen gegen Russland effektiver, weil diese „keinerlei Aufsicht durch Gerichte oder den Kongress“ unterlägen. „Sie können deshalb viel schärfer und intransparenter sein.“ Der Westen müsse seine Regeln und Gesetze verschärfen, um Russland niederringen zu können. Bis dahin seien „die US-Sanktionen ein "Mittel, das durchaus Biss hat“. Die Autorin des Buches „Putin’s Kleptocracy“ erwartet, dass „Putins Regime“ schlimmer wird: „Es liegt in der Logik eines solchen Regimes, dass es keinerlei tiefergehende Legitimität hat.“ Die hohen Zustimmungswerte für den russländischen Präsidenten in Umfragen würden wenig über die tatsächliche Unterstützung für den Staat aussagen.
In dem Heft fordert der russische Politikwissenschaftler Vladislav Inozemtzev vom Westen eine „moralische Entscheidung“, die westlichen Sanktionen gegen Russland zu verschärfen. Das begründet Direktor des Center for Post-Industrial Studies in Moskau und „Non-Resident Senior Follow“ des Nato-Thinktanks „Atlantic-Council“ in Washington mit der Behauptung, Moskau demontiere die europäische Friedensordnung. Die westlichen Sanktionen gegen Russland hätten einen „gutes Timing“ gehabt, weil fast zeitgleich Anfang September 2014 der Ölpreis seine Talfahrt begann. Inozemtzev bezeichnet sie aber als „unverzeihlich sanft“, weil westliche Wirtschaftsinteressen allumfassende Sanktionen verhindert hätten. Wie die EU weiter vorgehe, sei nicht klar. Aber der russische Politikwissenschaftler in transatlantischem Auftrag verweist darauf, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel am 1. Februar 2016 klarstellte: „Die Sanktionen gegen Russland müssen bestehen bleiben, bis Russland und seine Stellvertreter die Grundsätze von Minsk vollständig umgesetzt und den Abzug aus Donbas vollzogen, sprich, die Truppen von dort abgezogen, die Grenze wieder hergestellt und auch die Waffen abgezogen haben.“ Moskau reagiere aber nicht und warte nur darauf, dass die EU ihren Sanktionskurs ändere, weil dieser der eigenen Wirtschaft schade.
Aussöhnung als "Zeichen der Schwäche"
Der Autor meint, dass es nichts bringen würde, wenn die Sanktionen aufgehoben würden. Es gebe attraktivere Märkte „als ein autokratischer Petrostaat, der sich gegenüber dem Westen immer feindseliger verhält“. Inozemtzev setzt außerdem auf die USA, die sich der EU nicht anschließen und ihre Sanktionen nicht aufheben würden. „Das wiederum würde den europäischen Schritt praktisch bedeutungslos machen, bedenkt man die Abhängigkeit europäischer Banken vom US-Markt.“ Das Versprechen, ohne die Sanktionen würde der europäisch-russische Handel wieder aufblühen sei nur eine Illusion. Zwar würden gerade die baltischen Staaten, Polen und Finnland von einem solchen Schritt profitieren. Doch ausgerechnet diese seien die härtesten Verfechter der Sanktionen, freut sich der Autor über deren „Bereitschaft, den benachbarten Aggressor zu bestrafen“. Er meint, die EU solle „auf eine Kosten-Nutzen-Rhetorik lieber verzichten“. „Die Sanktionsentscheidung sollte von Werten und Interessen geleitet sein; was zählt, sind politische und keine wirtschaftlichen Gründe.“
Der russische Transatlantiker warnt in dem Heft auch vor einem Zeichen der Aussöhnung durch ein Ende der Sanktionen. Das käme „just in dem Moment, in dem die antieuropäische Propaganda in Russland auf den Höhepunkt ist und die Politik der Untergrabung der europäischen Einheit für den Kreml höchste Priorität hat“. Die Ursachen für Erstes und das US-Vorbild bei der Suche nach Verbündeten in Europa ohne Rücksicht auf dessen gemeinsame Interessen interessieren den Autor nicht weiter. Dafür ist er sich sicher, dass Moskau ein Sanktionsende als „klares Zeichen europäischer Schwäche“ und als „Ermutigung, seine Aggression gegen die Ukraine fortzusetzen“, sehen würde. Er meint, dass Russlands wirtschaftliche Probleme der EU die Chance böten, ohne eigenen wirtschaftlichen Schaden mehr Druck auf Moskau auszuüben. Bleibe dieser aus, werde Moskau die Kiewer Regierung unterminieren und die Ukraine destabilisieren und die EU dadurch noch größere Probleme bekommen als bisher schon in Folge des Syrien-Krieges. Inozemtsev schlägt ein verschärftes Sanktionsregime im finanziellen Bereich vor ebenso wie den Import von russischem Erdgas zu drosseln und die herrschende russische Elite zu treffen. Er stellt sich dabei Visa-Verbote der EU gegen alle russischen Staatsbediensteten und Einschränkungen für russische Privatvermögen vor. Die Sanktionen müssten „Millionen russischer Staatsbürger treffen und nicht nur einige Freunde Putins“. „Nur dann gibt es Hoffnung, dass die Russen den Druck auf ihre Regierung erhöhen werden.“ Wenn die Mittelklasse in Russland Putin für ihre Probleme verantwortlich mache, „könnte in Russland alles anders werden“, glaubt der vom Nato-Thinktank unterstützte Politologe. Er begründet seine Vorschläge damit, dass „Appeasement selten gute Ergebnisse zeitigt“. Weil der Westen unter anderem auf den Konflikt mit Georgien 2008 nur „weich“ reagiert habe, habe der Kreml nach der Krim und dem Donbass gegriffen. „Wenn Europa und die USA Russland seine formelle und informelle Besatzung weiter Teile ukrainischen Territoriums nachsieht, wird Moskau das als Freibrief für weitere geopolitische Abenteuer verstehen“, ist sich der russische Transatlantiker sicher. „Was wir seit 2008 erleben, ist die Demontage der europäischen Friedensordnung“, behauptet er. Es gehe nicht darum, die Ukraine zu verteidigen, „sondern Europa vor Russlands offener Aggression und seiner Politik der Untergrabung europäischer Institutionen zu schützen“. Wenn statt ein neues Sanktionspaket zu schnüren nur „Scheuklappen und Ohrenschützer“ angelegt würden, wäre das „Europas unverzeihlicher Fehler“.
Nun ließe sich das, was in der Zeitschrift der DGAP in diesen und weiteren Beiträgen zu lesen ist, als irrelevante Meinungen einzelner, nicht weiter bedeutsamer Politikwissenschaftler und -berater abtun. Ich weiß nicht um den realen Einfluss des selbstbeschriebenen „Berater und Impulsgeber der operativen Außenpolitik“ auf Berlin. Aber er dürfte nicht unerheblich sein, wie ein Blick auf die Mitwirkenden, Unterstützer und Förderer bei der DGAP zeigt. Auf german-foreign-policy.com wird die Internationale Politik als „führendes Außenpolitik-Fachblatt des deutschen Establishments“ bezeichnet. Die darin zu lesenden Statements für schärfere Sanktionen und eine härtere Gangart des Westens gegenüber Russland sind zudem auch bei einer anderen Institution zu finden, die die Bundesregierung berät und von dieser finanziert wird: Der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. SWP-Mitarbeiterin Susan Stewart fordert in einem am 11. Mai auf der Stiftungswebsite veröffentlichten Beitrag, der Europarat solle Russland ausschließen. Sie begründet das damit, dass Moskau Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nicht mehr folge. Auch die von ihr ausgemachten Menschenrechtsverletzungen auf der Krim rechtfertigten nicht mehr die Mitarbeit Russlands, dass schon zuvor „ein schwieriges Mitglied des Europarats“ gewesen sei. „Seine Vertreter haben die Parlamentarische Versammlung als Bühne für ihre eigenen Anliegen genutzt, sowohl in Straßburg als auch in den russischen Medien. Statt für eine Verbesserung von Demokratie und Menschenrechten in Russland einzutreten, haben sie dafür gestritten, Formulierungen abzumildern, die Russland betreffen.“ Es seien gar „Koalitionen mit Ländern wie Aserbaidschan oder Gruppierungen wie den britischen Konservativen“ geschmiedet worden. Bisher sei Russland bereit gewesen, sich dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) unterzuordnen. Doch im Dezember 2015 sei ein russisches Gesetz verabschiedet worden, dass es erlaube, Urteile des EGMR und anderer internationaler Gerichte zu ignorieren, „wenn diese der Verfassung der Russischen Föderation widersprechen“. Zwischenbemerkung von mir: Das geht natürlich gar nicht.
Nichts Neues gegen Moskau
Laut der SWP-Wissenschaftlerin wurde das Gesetz im April 2016 erstmals angewandt. Sie rechnet damit, dass Russland in Zukunft EGMR-Urteile nicht mehr akzeptiere und umsetze. „Damit verstößt das Land gegen eine fundamentale Verpflichtung, die alle Mitgliedstaaten des Europarates eingegangen sind.“ Stewart stützt ihre Forderung auch auf eine „weitere alarmierende Entwicklung“, den Umgang der russischen Führung „mit der illegal annektierten Krim“. „Hier hat Russland deutlich gezeigt, dass es nicht gewillt ist, wichtige Menschenrechtsstandards einzuhalten.“ Journalisten und krimtatarische Aktivisten seien verfolgt und festgenommen worden, andere seien geflohen. Zudem hätten das russländische Justizministerium und das Oberste Gericht der Krim im April 2016 „die gewählte Vertretung der Krimtataren, der Medschlis,“ zu einer extremistischen Organisation erklärt und damit verboten. Und das obwohl im Bericht einer Europarat-Delegation, die die Krim Anfang 2016 besuchte, „ausdrücklich vor einem Verbot des Medschlis gewarnt worden“ sei, weil „das einer systematischen Repression der Krimtataren gleichkäme“. „Offensichtlich haben sich die russischen Behörden diese Empfehlung nicht zu Herzen genommen, wie sie auch bisherigen, gut begründeten, Empfehlungen kaum je gefolgt sind“, beschwert sich die SWP-Mitarbeiterin. Ihre Schlußfolgerung: „Diese Kombination macht es unmöglich, die russische Mitgliedschaft im Europarat weiterhin zu rechtfertigen.“ Der entstehende Schaden sei „als gering einzuschätzen im Vergleich zu den Vorteilen eines Ausschlusses, selbst angesichts der ohnehin schon schwierigen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen“.
Die Forderung aus der SWP komme zu einem Zeitpunkt, an dem die Krimtataren und ihre Deportation im Jahr 1944 dank eines politisierten Eurovision Song Contests (ESC) europaweit neue Aufmerksamkeit erhielten, heißt es in einem Beitrag vom 17. Mai auf german-foreign-policy.com. Das Onlinemagazin macht auf Folgendes aufmerksam: „In den Hintergrund geraten dabei in der öffentlichen Wahrnehmung die krimtatarische NS-Kollaboration und die erfolgreichen Bemühungen des NS-Reichs, die Minderheit für Ziele der deutschen Außenpolitik zu nutzen.“ Und: „Die deutschen Bemühungen, die Krimtataren für außenpolitische Ziele einzuspannen, endeten mit der Niederlage im Zweiten Weltkrieg nicht; die Bundesrepublik setzte sie unter veränderten Rahmenbedingungen und in veränderter Form fort.“ In dem zweiten Teil des Berichtes über die „Hilfstruppen gegen Moskau“ heißt es unter anderem dass die von Berlin jedoch unterstützte Organisation der Krimtataren Medschlis die Eröffnung offizieller Vertretungsbüros in Brüssel und Washington ankündigte. „Der Medschlis, der in der westlichen Öffentlichkeit gemeinhin als einzig legitimes Gesamtorgan der Krimtataren dargestellt wird, vertritt tatsächlich nur eine Strömung unter den Krimtataren - eine prowestliche -, während eine zweite - eher prorussische - seine Politik seit Jahren dezidiert ablehnt.“ Ende 2010 haben dem Bericht zu Folge die an der Universität Bremen publizierten "Ukraine-Analysen" einen "sinkende[n] Rückhalt" des Medschlis bei den Krimtataren festgestellt. Aber wen kümmert das in Berlin und Washington schon, wenn es gemeinsam gegen Moskau geht.
Es könnte allerdings sein, dass auch die Menschen nicht nur hierzulande und in Russland, sondern auch in der Ukraine die Konfrontation mit Russland als „ein Elitenprojekt“ erkennen und deshalb ablehnen. Das habe ausgerechnet der ESC gezeigt, stellt ein Beitrag der Deutsch-Russischen Wirtschaftsnachrichten vom 17. Mai fest: „Die bewegendste Erkenntnis des Wettbewerbs war hingegen, dass der Konflikt dieser beiden Länder nur in den Köpfen einer Minderheit existiert. Die allerdings ist mächtig, über ganz Europa verbreitet und sitzt nahe an den Mikrofonen.“ Welche Folgen die Ratschläge aus den regierungsnahen und -finanzierten Thinktanks, Russland härter anzufassen, haben werden wird sich zeigen. Ihre Verbindung zu den herrschenden Eliten lässt wenig Gutes ahnen. Ob sich Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier auch gegen die Transatlantiker hierzulande durchsetzen kann mit seiner Erkenntnis „Wir brauchen Russland bei der Bewältigung der großen internationalen Krisenherde.“, bleibt abzuwarten. Gesagt hat er das in einem am 15. Mai von der Tageszeitung Der Tagesspiegel online veröffentlichten Interview. Isolation sei „noch keine Politik“, so Steinmeier über die westliche Politik gegenüber Russland, dem er natürlich „die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland und die Destabilisierung der Ostukraine“, zwei der Hauptbegründungen für die Sanktionen, vorwirft. Aber es gebe „keine überzeugenden historischen Beispiele dafür, dass die Isolierung und Abschottung uns dem Frieden in der Welt näher gebracht hätten“. Deshalb sollten die wichtigsten Industrieländer der Welt ein Interesse daran haben, dass Russland in den Kreis der G 8 zurückkehrt, „wenn etwa Russland seinen Teil zur Umsetzung des Minsker Abkommen beiträgt“. Für ein Ende der Sanktionen spricht er sich dennoch nicht aus: „Wir merken, dass die Widerstände in der EU gegen eine Verlängerung der Sanktionen (gegen Russland) gewachsen sind und dass es gegenüber dem letzten Jahr schwieriger sein wird, hierzu eine geschlossene Haltung zu finden. Auch wenn es anstrengend wird: um diese geschlossene Haltung werden wir uns bemühen müssen.“ Vielleicht verrät er uns eines Tages, wenn er auch ein Bundesminister a.D. ist, was er wirklich dachte, als er das sagte.
Nachtrag von 18:01 Uhr zu Steinmeier: "... "Außenminister Steinmeier bemerkt das Sträuben bei EU-Mitgliedsstaaten, die Sanktionen einfach zu verlängern, besteht aber darauf, dass Deutschland an den Sanktionen festhält. Mit dem Kopf durch die Wand, auch wenn sich die deutsch-russischen Beziehungen trotz Sommerzeit im Eiskeller befinden. Dies ist nicht die Tradition sozialdemokratischer Ostpolitik, wie sie von Egon Bahr und Willy Brandt geprägt wurde. ..." Pressemitteilung MdB Wolfgang Gehrcke, Linksfraktion, 19.5.16
Nachtrag vom 20.5.16 (15:17 Uhr) zur bundesdeutschen Außenpolitik und Steinmeier: Darauf machte heute Albrecht Müller auf den Nachdenkseiten aufmerksam: "Es gab einmal einen Konsens in der deutschen Außenpolitik, dass es sinnvoll ist, den Konflikt zwischen West und Ost nicht anzuheizen, sondern Konflikte abzubauen. Dabei spielte der Begriff „vertrauensbildende Maßnahmen“ im Rahmen des Gesamtkonzeptes, „Wandel durch Annäherung“ zu erreichen, eine zentrale Rolle. Das alles ist vergessen. Es ist vor allem auch deshalb vergessen, weil es vermutlich in den zentralen wichtigen Fragen keine eigenständige deutsche Außenpolitik mehr gibt. Und den Willen zur dauerhaften Versöhnung mit den Russen auch nicht.
Deshalb konnten aufmerksame Beobachter, die gestern in den Nachrichten über das Angebot zum NATO-Beitritt an Montenegro nach einer kritischen, wenigstens differenzierten Äußerung des deutschen Außenministers oder anderer Stellen der Bundesregierung suchten, nicht fündig werden. Ich fand eine Information des Auswärtigen Amtes vom 19. Mai (siehe Anhang), in der es gegen Ende heißt, Steinmeier habe Montenegro zu diesem entscheidenden Schritt gratuliert. ..."
An ihren Taten sollt ihr sie erkennen! (1. Johannes 2,1-6)
Sage ich als Atheist zur deutschen Außenpolitik und diesem konkreten Beispiel dafür.
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