Die anhaltend hohe Zahl von Flüchtlingen, die in die Bundesrepublik Deutschland kommen, stellt das Land anscheinend nicht nur vor eine Bewährungs-, sondern vor eine Zerreißprobe. Diesen Eindruck erweckt nicht nur die politische Diskussion um Obergrenzen und ähnliches. Dazu trägt nicht minder die tatsächliche Lage der Flüchtlinge und wie sie untergebracht und versorgt werden bei. Auch der zunehmende Frust und Hass vom rechten Rand und aus der Mitte der Gesellschaft, der an ihnen verbal und gewalttätig ausgelassen wird, sorgt dafür. Die herrschende und regierende Politik, allen voran Bundeskanzlerin Angela Merkel, wird für die großen Probleme verantwortlich gemacht. Sogar Regierungsmitglieder und führende Parteifunktionäre widersprechen inzwischen zunehmend der Kanzlerin, die behauptet hatte: „Wir schaffen das“.
Das alles passiert in einem der reichsten Länder dieser Welt. Das ereignet sich in einem Staat, der gern mit seiner wirtschaftlichen Potenz protzt. Genau diese Potenz bietet eigentlich die Grundlage für Merkels Optimismus. Der ist von der Sache her eben begründet. Doch die deutsche Leistungsfähigkeit und das dazugehörige Organisationstalent können nicht genutzt werden, um anderen wie eben den Flüchtlingen zu helfen. Und genau dafür ist die herrschende und regierende Politik verantwortlich. Sie hat die entsprechenden Möglichkeiten und Ressourcen des Staates seit mehr als 20 Jahren systematisch kaputtgespart. Vor den Folgen wurde immer wieder gewarnt, so unter anderem 2007 von der „Initiative Öffentliche Dienste“ mit der Kampagne „Genug gespart!“.
Der fortgesetzte Abriss des Sozialstaates ebenso wie der Raubbau am
öffentlichen Dienst als Dienstleistung für die Bürger haben die
Grundlagen für das aktuelle Staatsversagen gelegt. Das gilt sogar für
die Polizei und ihre Fähigkeit, die Kriminalität unter Kontrolle zu
halten.
Der Staat wurde seiner Fähigkeiten beraubt, einer großen Zahl von
Menschen auch kurzfristig und vernünftig helfen zu können. So dass heute
ohne die vielen Ehrenamtlichen den Hundertausenden, die in die
Bundesrepublik geflüchtet sind und weiter flüchten, gar nicht geholfen
werden könnte, nicht mal notdürftig. Zugleich ist das eine der
Grundlagen für die nicht nur verbalen Ausfälle vielerorts gegen
Flüchtlinge. Da reagieren sich jene ab, denen seit mehr als 20 Jahren
von der regierenden Politik hierzulande erklärt wird, dass an allem und
besonders an den Leistungen für die Bürger gespart werden muss. Den
Frust und die Wut bekommen die ab, die nicht verantwortlich sind für den
Abbau der sozialen Infrastruktur, für schlechtbezahlte Jobs,
Langzeitarbeitslosigkeit und einen Hartz IV-Regelsatz unter dem
Existenzminimum, für gestrichene Sozialleistungen und steigende Kosten
für Gesundheit, Bildung, Kultur usw. Für die gewalttätige Dummheit
derjenigen, die die Flüchtlinge als Sündenböcke für ihre und andere
Probleme sehen, trägt auch das kaputtgesparte Bildungssystem Mitschuld.
Die Flüchtlinge sind genauso wenig dafür verantwortlich, dass
zugleich der Reichtum auch hierzulande zunimmt, die Gewinne der
Unternehmen steigen und Banken mit Milliarden Euro „gerettet“ werden. Es
ist die Politik, die das vorhandene Geld weiter von unten nach oben
verteilt, mit allen Mitteln. Das geschieht eben auch durch den Abbau der
staatlichen Infrastruktur, die eigentlich den Bürgern zugute kommen
soll. Das reicht vom Stellenabbau im öffentlichen Dienst und seinen
zahlreichen Bereichen bis hin zum als „Verwaltungsreform“ getarnten
Abbau von Verwaltungsstrukturen. Die sollen angeblich so effizienter
werden, was aber nur das Gegenteil bewirkt und dafür sorgt, dass die
öffentliche Verwaltung für die Bürger immer schlechter erreichbar ist.
Und für alles wird die Privatisierung als Allheilmittel gepriesen, auch
von jenen Politikern, die den Sozial- und Staatsabbau vorantreiben. So
wird seit Jahren das Versagen des Staates organisiert. Es zeigt sich
aktuell nur besonders deutlich bei dem Versuch, die hohe Zahl der
Flüchtlinge aufzunehmen, zu versorgen und unterzubringen.
Deshalb ist Merkels Optimismus eben doch unberechtigt. Auch weil
sie für dieses Staatsversagen mit verantwortlich ist, samt jener aus
ihrer und anderen Parteien, die sie nun offen oder verdeckt kritisieren
und ins Visier nehmen. Was seit Jahren zerstört wurde, kann nicht
innerhalb kurzer Zeit wieder aufgebaut werden. Das gilt auch für das
Vertrauen der Bürger.
Notwendig wäre eine andere Politik:
- die Nein sagt zur fortschreitenden Ökonomisierung aller Gesellschaftsbereiche samt Privatisierung,
- die die Kapitulation der Politik vor dem Finanzkapital widerruft,
- die den Staat nicht weiter im Interesse einer kleinen, wenn auch mächtigen gesellschaftlichen Gruppe abbaut,
- die sich wieder um die Interessen aller hier lebenden Menschen kümmert, ob mit oder ohne deutschem Pass und
- die zugleich Ursachen von Kriegen und Flucht weltweit entgegenwirkt anstatt diese zu befördern unter dem verlogenen Motto „noch mehr deutsche Verantwortung in der Welt“, die real mehr Militär ins Ausland statt aktivere Friedenspolitik bedeutet.
Eine solche andere Politik erscheint kurzfristig unrealistisch.
Aber hier gilt tatsächlich: Das wird man doch noch mal sagen dürfen! Es
muss gesagt werden. Mehr noch: Eine solche Politik muss eingefordert
werden! Sonst sind die selbstverursachten Probleme tatsächlich auf Dauer
nicht zu bewältigen. Die Folgen werden dann vor allem die Menschen, die
hier leben, ob mit oder ohne deutschen Pass, zu tragen haben. Und wenn
die einen Betrogenen in ihrer Blindheit, Dummheit und Wut auf die noch
schwächeren Betrogenen losgehen, freuen sich nur jene, von denen sie
betrogen wurden.
Neue Grenzschließungen und -ziehungen sind ebenso wie Gewalt gegen
Flüchtlinge die falschen Antworten, weil sie keines der grundlegenden
Probleme lösen. Ich befürchte allerdings, dass es sich um
systembedingtes Staatsversagen und dass es sich um systemimmanentes
Fehlverhalten der politischen Klasse handelt. Mir fällt dazu ein, was
seit 1968 in Artikel 20, Absatz 4, des Grundgesetzes steht: "Gegen
jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle
Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich
ist." Wie das gehen soll, weiß ich nicht. Aber dieses Widerstandsrecht soll ja nur für den "absoluten Ausnahmefall" gelten, wie der Deutsche Bundestag dazu online erklären lässt.
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