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Donnerstag, 19. September 2019

Serie DDR 1989/90: Vor 30 Jahren in der DDR – Außer „Mauerfall“ nichts gewesen?

von Tilo Gräser

Die DDR 1989, in ihrem vierzigsten und letzten Jahr, ist 30 Jahre später Thema für Medien, Politik und Gesellschaft der 1990 vereinigten Bundesrepublik. Oftmals wird der Blick dabei auf den 9. November 1989 reduziert, als wie nebenbei die deutsch-deutsche Grenze geöffnet wurde. Doch in dem Jahr geschah in der DDR viel mehr.

„Wenn man den Mauerfall, der  ja tatsächlich eine Maueröffnung gewesen ist, in den Mittelpunkt stellt und ausblendet, was sich sonst noch zwischen Oktober 1989 und Oktober 1990 vollzogen hat, dann kann man wunderbar den Zusammenbruch der DDR beschreiben.“ So erklärte der Historiker Stefan Bollinger gegenüber Sputnik die vorherrschende Sicht auf die Ereignisse in der DDR vor 30 Jahren. „Da kann man sagen, dieser Staat war vermutlich von Anfang an so marode und zersetzt, dass das ganz folgerichtig war.“

Es handle sich um den „nicht ganz erfolglosen Versuch“, die Geschichte eines Landes von ihrem Ende her zu erzählen, so Bollinger. Dabei werde ausgelassen, was am Anfang war. Für den ostdeutschen Historiker ist die Frage wichtig, was im Herbst 1989 das Ziel jener war, die in der DDR für Veränderungen eintraten – auf den Straßen, in der Bürgerbewegung und auch in der Staatspartei SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands).

Das Land habe im Sommer und Frühherbst 1989 in einer tiefen Krise gesteckt, wirtschaftlich und vor allem politisch. Die politische Führung, das Politbüro der SED, habe es nicht mehr verstanden, die Fragen der DDR-Bürger zu beantworten und auf deren Wunsch, dass sich etwas ändert, zu reagieren. Dazu seien die Kräfte um SED-Generalsekretär Erich Honecker nicht mehr in der Lage gewesen, „geschweige denn, einen irgendwie gearteten Reformkurs einzuleiten“.

Reformstau im Realsozialismus


Diese Situation habe eine Vorgeschichte gehabt, wozu der Allmachtanspruch einer angeblichen Avantgarde-Partei gehört habe. Dazu habe ein „sehr eingeschränktes Verständnis von Demokratie“ gehört, hob der Historiker hervor. Es habe sich eine Gesellschaft herausgebildet, die nicht verstanden habe, dass sie sich nur entwickeln kann, wenn sie sich selbst immer wieder in Frage stellt und in Diskussionen versucht, Probleme zu lösen und neue Wege zu finden.

Die Entwicklung in der DDR in den letzten Jahren bis 1989 sei eingebunden gewesen in eine veränderte internationale Lage. Zu dieser habe gehört, dass es zu Veränderungen in der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern kam. Bollinger verwies dabei auf den „zwanzigjährigen Entwicklungsverlust“ seit den 1960er Jahren, seitdem der „Prager Frühling“ 1968 niedergewalzt wurde.

Das habe vor allem für die wissenschaftlich-technische Entwicklung der realsozialistischen Wirtschaften gegolten. Damalige Versuche seien aus Angst vor den politischen Konsequenzen abgebrochen worden, wodurch es einen Reformstau gegeben habe. In der DDR sei die unter Ulbricht mit dem „Neuen Ökonomischen System“ eingeleitete Wirtschaftsreform Opfer dieser Ängste der Dogmatiker in Moskau und Berlin geworden.

Fluchtwelle als Antwort der DDR-Bürger


Die DDR-Bürger hätten mit der Zeit festgestellt, „die eigene Gesellschaft entwickelt sich nicht mehr so erfolgreich, wie das im ‚Neuen Deutschland‘ jeden Tag drin steht“. Die wachsenden Erwartungen seien nicht mehr befriedigt worden, während gleichzeitig in den anderen sozialistischen Staaten anscheinend politisch Einiges in Bewegung geriet. Selbst ein Parteiführer wie Michail Gorbatschow in der Sowjetunion habe erklärt, dass der Sozialismus die Demokratie wie die Luft zum Atmen benötige, erinnerte der Historiker.

Dieses gesellschaftliche Gemisch habe sich im Sommer 1989 zuerst in der Flucht von zehntausenden vor allem jüngerer Menschen aus der DDR entladen. Aus Sicht von Bollinger gab es im Herbst vor 30 Jahren noch die allerdings immer mehr schwindende Alternative, die DDR weiter zu entwickeln und zu erneuern. Das hätten selbst viele Bürgerbewegte sowie Reformkräfte in der SED und in der DDR-Partei- und Staatsführung gewollt. Dafür stehe das Datum 4. November 1989, als rund 500.000 Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz für eine veränderte DDR demonstrierten statt aus ihr wegzulaufen. Bollinger hat dies in einer Reihe von Publikationen beleuchtet.

Die andere Alternative, vertreten damals noch nur von einer Minderheit, sei gewesen, dieses „Experiment DDR“ zu beenden und den Weg in die Bundesrepublik zu nehmen. Wer das wollte, habe sich durch den 9. November, die Öffnung der DDR-Grenzen, bestätigt gefühlt, meinte der Historiker rückblickend.

„Kalter Staatsstreich“ am 9. November 1989


Er hat kürzlich in einem Beitrag in der Zeitschrift „Ossietzky“ die Öffnung der Grenzen vor 30 Jahren als „kalten Staatsstreich“ bezeichnet. Damit habe die SED-Führung für Ruhe auf den eigenen Straßen sorgen wollen. Das sei geschehen, nachdem sie sich vorher nur mühsam dazu durchgerungen habe, endlich etwas zu verändern und Honecker abzulösen, sagte Bollinger auf Nachfrage. Doch die neuen reformorientierten Kräfte um Egon Krenz hätten nicht genau gewusst, „was sie eigentlich wollten, geschweige denn, wie sie es wollten“.

Die Gesellschaft der DDR habe sich nach dem Personalwechsel und den angekündigten Reformen im Oktober nicht beruhigt. Ebenso sei die Fluchtwelle über die ČSSR und Ungarn nicht abgeebbt. Der schnell vorgelegte Gesetzentwurf für Reisefreiheit habe sein Ziel verfehlt. Das Zentralkomitee (ZK) der SED habe nach einem „Befreiungsschlag“ gesucht, als es vom 8. bis 10. November tagte, erinnerte der Historiker.

Der dabei diskutierte Entwurf eines neuen Reisegesetzes habe das Ziel gehabt, den DDR-Bürgern zu ermöglichen, legal in den Westen zu reisen und wieder zurückzukommen. Davon habe sich die neue Parteiführung versprochen, „den Druck aus dem Kessel zu nehmen“, vermutete Bollinger. Statt weiter montags auf die Straßen zu gehen, hätten sich die Bürger bei den Behörden nach Visa angestellt und wären in die Bundesrepublik gefahren, beschrieb er die Hoffnungen in der SED-Spitze.
Das sei der tiefere Grund für das gewesen, was SED-Politbüromitglied Günter Schabowski auf der legendären Pressekonferenz am 9. November 1989 „auf sehr seltsame Art und Weise“ verkündete. Bollinger hält für die Geschichte mit dem Zettel „handwerkliches Ungeschick“ des SED-Funktionärs ebenso für möglich wie „großes Kalkül“. „Vermutlich kommt dort Unfähigkeit und politisches Kalkül zusammen.“

DDR-Grenzer mit gesundem Menschenverstand


Für den Historiker bleibt „unentschuldbar“, dass durch Schabowskis anscheinend unüberlegtes Handeln die Sicherheitskräfte der DDR vor eine eigentlich unlösbare Aufgabe gestellt wurden. Ihre Aufgabe sei es gewesen, die Grenze zu sichern und „zuzuhalten“. Bollinger sprach von einem „großen Glück und der hohen Intelligenz sowie dem persönlichen Mut vieler Grenz- und Staatssicherheitsoffiziere der DDR, dass die den gesunden Menschenverstand eingeschaltet haben“.

Sie hätten aus der Einsicht heraus gehandelt, dass das Land im Umbruch ist und die eigene Führung nicht mehr wusste, was sie tut. Deshalb hätten sie die Menschen an den Grenzübergangsstellen in der Nacht vom 9. November nicht mehr aufgehalten. „Ein durchgeknallter Leutnant, der seine zwei Kalaschnikow-Magazine durchgejagt hätte, hätte dabei ein Blutbad anrichten können“, erinnerte er an die damalige Gefahr.

Bollinger verwies zudem darauf, dass die DDR-Führung beschlossen habe, die Grenze zu öffnen, ohne sich mit den Verbündeten im Osten zu verständigen. Ebenso sei nicht mit der Bundesrepublik darüber vorab gesprochen worden. Allerdings erklärte Krenz kürzlich gegenüber Sputnik, das neue Reisegesetz sei mit Moskau abgesprochen gewesen.

Vorgespräche vor der Maueröffnung


Politbüromitglied Schabowski hatte sich am 29. Oktober 1989 mit Walter Momper, damals Regierender Bürgermeister von Westberlin, im Ostteil der Stadt getroffen. Dabei hatte er die volle Reisefreiheit für DDR-Bürger am Dezember angekündigt. Das hat Momper in seinen Erinnerungen an die Ereignisse im Herbst 1989 beschrieben. Die West-Berliner Verwaltung habe sich daraufhin auf einen baldigen Ansturm aus dem Osten vorbereitet, war dann überrascht worden, wie schnell der kam.

Allerdings habe die DDR-Spitze versäumt, von Bonn einen ökonomischen Preis für die geöffnete Grenze auszuhandeln, so Historiker Bollinger. Er erwähnte, dass Alexander Schalck-Golodkowski sich im Auftrag von Krenz am 6. November in Bonn geheim mit Bundeskanzleramtsminister Rudolf Seiters und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble getroffen habe.

Der DDR-Vertreter schlug den beiden laut dem Online-Portal „Chronik der Mauer“ neue Milliardenkredite für die DDR und mehr Wirtschaftskooperation vor, wofür die Grenze schrittweise geöffnet werden solle. Ebenso bat er die Bonner Vertreter darum, die Folgen des neuen Reisegesetzes finanziell zu unterstützen. Online wird das so zusammengefasst: „Seiters und Schäuble zeigen sich gesprächs- und verhandlungsbereit, taktieren jedoch hinhaltend. Schalck erkennt, dass er keinen Verhandlungsspielraum mehr hat.“ Interessant ist dabei, welche politischen Vorgaben Schäuble damals dem DDR-Vertreter machte.

Schabowskis „Schlag gegen die Souveränität der DDR“


Aus Sicht von Bollinger handelte es sich bei der übereilten, leichtfertigen Grenzöffnung um einen „Schlag gegen die Massenbewegung“ sowie um „einen Schlag gegen die Souveränität der DDR als eigenständigem Staat“. Er könne nicht einschätzen, ob der 2015 verstorbene Schabowski seine Unwissenheit auf der Pressekonferenz am 9. November 1989 nur vorgetäuscht hatte.

Im vergangenen Jahr wurde in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ der Frage nachgegangen, ob sich der SED-Mann nur versprochen hatte. Dagegen hatte 2014 Schabowskis Frau Irina bereits gegenüber der „Bild“-Zeitung erklärt: „Als er den Zettel vorlas, wollte er, dass die Mauer sofort geöffnet wird.“

„Für die kritischen Geister war am Abend des 9. November klar gewesen, dass damit die Bewegung für eine veränderte eigenständige DDR scheitern wird“, so Bollinger zu den Folgen. In seinem „Ossietzky“ Beitrag schrieb er dazu, dass „viele ihrer treibenden Akteure das zunächst nicht wahrhaben wollten und der Zentrale Runde Tisch eine Reformagenda erarbeitete, gegossen in diesen Verfassungsentwurf, während die Entwicklung in der DDR längst fremdbestimmt war, das heißt westdeutsch“.

Ende der eigenständigen DDR-Entwicklung


Mit der geöffneten Mauer sei eine Schleuse geöffnet worden, sagte er im Sputnik-Gespräch, die nicht mehr zu schließen gewesen sei. Der Historiker verwies darauf, dass durch die geöffnete Grenze nicht nur LKW aus dem Westen Bananen in den Osten brachten. Fast unmittelbar mit dem 10. November 1989 hätten sich die politischen Kräfte der Bundesrepublik in die weitere Entwicklung der DDR eingemischt.

Deutliches Zeichen dafür sei der Auftritt von Bundeskanzler Helmut Kohl am 19. Dezember 1989 in Dresden gewesen. „Man muss davon ausgehen, dass das eine mit den USA abgestimmte Entwicklung gewesen ist“, so Bollinger. Spätestens als am 6. Februar 1990 von Kohl angekündigt wurde, die D-Mark in der DDR einzuführen, sei deren eigenständige Entwicklung beendet gewesen.

Für „Linsengericht“ eigenes Land aufgegeben


Folge der geöffneten Mauer vor 30 Jahren sei der „zügige Übergang vom zunächst basisdemokratisch geprägten ‚Wir sind das Volk!‘ zu dem deutsch-nationalistischen ‚Wir sind ein Volk!‘, der Weg von der Selbstermächtigung der Bürger der DDR zur politischen Selbstentleibung der gerade mündig gewordenen DDR-Bürger“ gewesen. Das schrieb Bollinger in „Ossietzky“:

„Die Akteure ließen sich ihren demokratisch-sozialistischen Schneid der ersten Tage mit einer gut gewürzten Linsensuppe westlicher Freiheiten zum Reisen und zum Profitscheffeln abkaufen. Wie gesagt, verständlich und berechtigt Freiheiten einfordernd, aber schlussendlich gegen die eigenen Interessen gerichtet.“

Die Bundesrepublik heute, 30 Jahre später, sei weiterhin „ein Land mit zwei Gesellschaften“, stellte er fest. „Das wird uns langfristig erhalten bleiben.“ Aus den Ostdeutschen würden weiter nur schwer Westdeutsche zu machen sein. Viele Ostdeutsche würden glauben, sie hätten sich in die bundesdeutsche Gesellschaft hineingearbeitet, „aber für die breite Masse wird das nicht stattfinden“.

Beachtenswertes aus 40 Jahren DDR


Für den Historiker ist das aber „das normale Schicksal und Problem von Anschlüssen“, wie er mit Blick auf die Beispiele der Katalanen und der Franko-Kanadier sagte. Er forderte zum Nachdenken darüber auf, was im 41. Jahr der DDR von Oktober 1989 bis Sommer 1990 politisch und gesellschaftlich möglich wurde. Da seien Freiräume entstanden, „die man sich so weder für den Realsozialismus noch für den Realkapitalismus vorstellen konnte“.

Bollinger verwies auf die „breite Form der Mitbestimmung“ im Wirtschaftsbereich wie in der Gesellschaft. Dazu zählten die „Runden Tische“, an denen gemeinsam Lösungen für Probleme gesucht wurden. Davon künde auch der Verfassungsentwurf des Runden Tisches der DDR vom April 1990. Das sei für künftige gesellschaftliche Entwicklungen „nicht uninteressant“, so der Historiker.

Aus seiner Sicht bleibt der Versuch in 40 Jahren DDR beachtenswert, eine nichtkapitalistische Gesellschaft mit einem hohen Grad der Vergesellschaftung und kollektiver Lösungen für Probleme aufzubauen. Der Kapitalismus in seinem aktuellen Zustand werfe Fragen auf, welche die Existenz der Gesellschaft betreffen. Dabei könnten die realsozialistischen Erfahrungen hilfreich sein, ohne wiederholen zu wollen, was war und auf Dauer nicht funktionierte.

„Das hat wenig mit Ostalgie oder Nostalgie zu tun, sondern mit dem Versuch, aus der Geschichte zu lernen“, hob Bollinger hervor. „Es hat mit der Erkenntnis zu tun, dass auch die vereinigte, neue Bundesrepublik mit einer ganzen Reihe von Problemen behaftet ist, die sie vielleicht schon vor der Vereinigung hatte. Die vereinigte Bundesrepublik nach 1990 ist der Versuch, das mit einem neoliberalen System zu lösen. Ostdeutschland war das Experimentierfeld für diese Entwicklung.“

zuerst erschienen auf sputniknews.com am 8.5.19

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