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Mittwoch, 16. Mai 2018

Gastbeitrag: Moskau geht es um mehr als nur Assad – Analyse der russischen Syrien-Politik

Von Tilo Gräser

Russlands militärisches Eingreifen im Herbst 2015 hat die Lage in Syrien verändert. Es hat der syrischen Führung geholfen, die Oberhand zurückzugewinnen und das Land vor allem gegen Angriffe von innen zu verteidigen. Mit den Zielen und Motiven Moskaus für die Intervention beschäftigt sich eine Analyse in der Monatszeitung „Le Monde diplomatique“.

Syrien soll als souveräner und funktionsfähiger Staat erhalten bleiben. Zugleich soll es kein neuer Herd des Dschihadismus werden. Das gehört zu den Zielen Russlands – und zwar schon bevor es sich im September 2015 militärisch in den Konflikt in dem Nahost-Land einmischte. Darauf macht der russische Politikwissenschaftler Nikolai Kozhanov in einem Beitrag für die aktuelle deutschsprachige Ausgabe der Monatszeitung „Le Monde diplomatique“ (LMd) vom Mai aufmerksam. Er ist Dozent für politische Ökonomie des Mittleren Ostens an der Europauniversität Sankt Petersburg und Mitarbeiter beim Russland- und Eurasien-Programm des britischen „Chatham House – Royal Institute of International Affairs“.

Die genannten Ziele gehörten zu den Gründen der militärischen Intervention Russlands auf Seiten der syrischen Regierung, so der Autor. Die russischen Luftangriffe hätten zudem verhindert, dass der Westen eine „Flugverbotszone“ über Syrien einrichtet und direkt gegen die syrische Armee eingreift. Der russische Militäreinsatz seit 2015 sei aber „keine Selbstverständlichkeit“, so Kozhanov. Er erinnert daran, dass Moskau zu Beginn des syrischen Konflikts 2011/12 davon ausging, dass Präsident Bashar al-Assad Herr der Lage bleibt – „solange er vor der Einmischung ausländischer Mächte bewahrt werde“. Deshalb habe Russland sich um einen „Kompromiss zwischen Damaskus und der internationalen Gemeinschaft“ bemüht, mit dem Ziel, die syrischen Institutionen zu retten.

Westliche Ignoranz


Das sei eine der Lehren „aus dem Zusammenbruch Libyens nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes 2011“ gewesen. Kozhanov erwähnt allerdings nicht, dass der Westen nach dem Erfolg in Libyen hoffte, auch in Syrien einen Regimewechsel hinzubekommen und dort längst „heimlich Krieg“ führte, wie 2012 bei „Spiegel online“ zu lesen war. Die Folge: „Die westlichen Mächte ignorierten damals das Angebot der Russen, Präsident Bashar al-Assad zum Rücktritt zu zwingen“, sagte der algerische Spitzendiplomat und ehemalige Syrien-Sondergesandte der UN, Lakhdar Brahimi, 2016 zum Fernsehsender Al-Jazeera.  Laut Brahimi hätte der Syrien-Krieg bereits 2012, also im Jahr nach dessen Beginn, beendet werden können, wenn auf die russischen Vorschläge eingegangen worden wäre.

Kozhanov schreibt, Moskau habe Assad „nie ganz vertraut“, weil dieser nach seinem Amtsantritt im Jahr 2000 versuchte, sich stärker an Westeuropa, besonders Frankreich anzunähern. Zudem sei nicht vergessen worden, „dass Damaskus in den 1990er und 2000er Jahren die russischen Auslieferungsgesuche für tschetschenische Rebellen ignorierte“.

Islamistische Gefahr


Doch im September 2015 drohte Assad und die syrische Führung, den Krieg gegen die von außen unterstützten Islamisten und anderen bewaffneten Gegner zu verlieren. Moskau habe sich daher für die direkte und dauerhafte Militärintervention entschieden. Das sei aufgrund der Erfahrungen im Irak und Libyen geschehen – „zwei Staaten, in denen der Sturz der Regime nichts Gutes gebracht habe“. Die russische Regierung habe zudem bereits lange zuvor gewarnt, Syrien könne zum neuen Herd des Dschihadismus werden, einer Gefahr vor allem für Russland.

„Eines der Hauptziele der russischen Intervention in Syrien war die Wiederherstellung der militärischen und politischen Handlungsfähigkeit des Regimes“, hebt Kozhanov hervor. Deshalb seien alle für Damaskus gefährlichen Gruppen, nicht nur die Islamisten, angegriffen worden.

„Gleichzeitig propagierte Russland die Idee einer breiten Koalition gegen den IS, die auch das Assad-Regime einbeziehen sollte, um dessen internationale Isolation zu beenden. Zu diesem Zweck tauschte der Kreml auch Informationen mit anderen Staaten aus, darunter die USA, und versuchte seine militärischen Operationen zu koordinieren.“

Kozhanov meint, die russische Regierung habe „ein weitaus ambitionierteres Ziel“ verfolgt, als nur Assad zu retten und den Krieg zu beenden. Sie habe dem entsprechenden Verhandlungsprozess zu Syrien die eigenen Bedingungen übergestülpt: „Dazu gehörten die Bewahrung der Integrität des syrischen Territoriums und die Bildung einer Koalition gegen den IS, wie Putin im September 2015 vor der UN-Vollversammlung erklärte.“ Und: „Russland verlangte auch den Erhalt der staatlichen Strukturen Syriens und erklärte, dass die Umgestaltung des Regimes nur im Rahmen der bestehenden verfassungsmäßigen Ordnung denkbar sei.“

Neue Gesprächspartner


Putin sei noch 2016 vom möglichen Friedensprozess überzeugt gewesen, einschließlich einer Art Machtteilung zwischen der syrischen Führung und „vernünftigen“ Elementen aus der Opposition. Nach der Befreiung Ost-Aleppos im Dezember 2016 sei klar gewesen, dass die syrische Führung um Assad nicht mehr nur um ihr Überleben kämpft. Der daraufhin von Moskau angestoßene Verhandlungsprozess von Astana sollte einen Waffenstillstand zwischen Damaskus und dessen Gegnern erreichen. Dabei wurden der Iran und die Türkei einbezogen, zwei wichtige regionale Akteure, die bisher von den anderen Verhandlungen ausgeschlossen blieben.

Der nach dem Fall der wichtigsten Bastionen des „Islamischen Staates“ Ende 2017 verkündete russische Teilabzug habe vor allem eine politische Funktion gehabt, schreibt der Politologe in der Mai-Ausgabe der Zeitung. Es sei auch darum gegangen, sich von den USA zu distanzieren. Kozhanov verweist darauf, dass Russland inzwischen in Gesprächen mit anderen regionalen Mächten sei, die in Syrien Einfluss nehmen, so mit der Türkei, dem Iran und auch Saudi-Arabien. Moskau habe der türkischen Offensive gegen Afrin – obwohl offiziell verurteilt – freien Luftraum ermöglicht, weil sich damit die Türkei „noch weiter von den USA und anderen Nato-Staaten wie etwa Frankreich entfernte, die die kurdischen Kräfte in Syrien unterstützen“. 

Westliches Signal


Die russische Führung geht laut dem Autor davon aus, „dass weder die Europäische Union noch die USA eine entscheidende Rolle in Syrien spielen“, trotz der US-britisch-französischen Luftangriffe im April dieses Jahres. Dennoch sieht er diese als „Signal an Moskau …, dass Russland nicht die einzige Macht ist, die über die Entwicklung in Syrien entscheidet.“ Andererseits schreibt er, „nach Ansicht der russischen Strategen haben diese Akteure nie einen wirklichen Willen gezeigt, sich in Syrien zu engagieren“. Washington habe im November 2017 Moskau zugesichert, die territoriale Integrität Syriens, das Prinzip der Deeskalation anzuerkennen und den Genfer Prozess weiter zu unterstützen.

Russland und die USA würden versuchen, eine direkte Konfrontation in Syrien zu vermeiden. Laut Kozhanov geschah allerdings der von US-Bomben zurückgeschlagene Angriff syrischer Truppen und russischer Söldner auf ein kurdisch kontrolliertes Ölfeld bei Deir al-Sor im Februar 2018 nicht ohne Moskauer Wissen. Danach sei jede weitere Provokation der US-Truppen in Syrien vermieden worden.

Interessanter Hintergrund


Kozhanovs Analyse der russischen Interessen ist sachlich und nüchtern. Interessant ist, dass er unter anderem für das „Chatham House — The Royal Institute of International Affairs“ arbeitet, einem mit britischen Regierungsgeldern finanzierten transatlantisch orientierten Thinktank mit Sympathie für Regimewechsel arbeitet. Vielleicht war sein Text der russlandfeindlichen Tageszeitung „taz“, die die deutsche Ausgabe der „Le Monde diplomatique“ mitherausgibt, zu sachlich: „Doch unter den Bombenangriffen leidet vor allem die Zivilbevölkerung“, schrieb sie in die Einleitung zum Text, der sich damit nicht weiter auseinandersetzt.

Ein zweiter Beitrag des Politologen aus Sankt Petersburg in der aktuellen LMd beschäftigt sich unter dem Titel „Pragmatische Partner“ mit der Zusammenarbeit zwischen Russland und Iran unter anderem in Syrien. Gemeinsame Interessen hätten beide Länder wieder einander näher gebracht, ohne ein festes Bündnis anzustreben.

zuerst erschienen bei Sputniknews am 15.5.2018
mit freundlicher Genehmigung des Autors

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